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I. „Ein Baum voller Kutten", oder: Worum es in dieser Studie gehen soll
timierung von Sachverhalten unterschiedlichster Art, indem sie diese als er-
strebenswert und gut erweisen. Sie können somit als nachträgliche Sinnstiftun-
gen von Geschehen gedeutet werden, deren Einsatz zugleich den situativen
Interessen und kommunikativen Anliegen der Akteure unterliegen. Der affir-
mative Charakter von Werten wird dabei durch ihre emotional-affektive Auf-
ladung noch weiter gesteigert. Da Werte als das Gute und Wünschenswerte
schlechthin präsentiert werden, können sie sich normativen Begründungs-
zwängen oder Rationalisierungen entziehen. Gültigkeit wird im Falle von
Wertediskursen zumeist a priori beansprucht, seltener hergeleitet, kaum jedoch
problematisiert. Diese suggestive Überzeugungskraft bildet einen gewichtigen
argumentativen Mehrwert, da Werte dementsprechend nicht mit der Kontin-
genz oder dem Voraussetzungsreichtum konfrontiert sind, denen andere For-
men der Beweisführung unterliegen.143
Vor diesem Hintergrund sind Werte als dezidiert soziale Phänomene zu
verstehen, da sie einerseits durch kommunikative Prozesse selbst generiert und
konstruiert werden, andererseits durch ihre Funktionalisierungen in diesen
Prozessen wesentlich zur Verortung der in die Interaktion involvierten Akteure
beitragen. Denn das Bekenntnis zu beziehungsweise die Ablehnung von Werten
beinhaltet neben anderen Aussagegehalten immer auch eine soziale Positionie-
rung des jeweiligen Akteurs, da jede Form der Vergemeinschaftung durch einen
geteilten Pool von Vorstellungen des Guten und Erstrebenswerten gekenn-
zeichnet ist. Die Frage, ob die in der gemeinsamen Kommunikation verhandelten
Werte von den Akteuren auch im Sinne einer handlungsleitenden Identität in-
ternalisiert worden sind, lässt sich weder beantworten noch beeinflusst sie den
Aspekt der sozialen Verortung, da allein der kommunikative Prozess für diese
auschlaggebend ist. Schon die Zuschreibung von Wertehaltungen an unbetei-
ligte Dritte kann diese in eine Gemeinschaft einordnen, wie auch umgekehrt die
Behauptung einer Verletzung oder Ablehnung der normativen Ordnung einen
Ausschluss nach sich zieht. Solche Individuen können als passive Diskursteil-
nehmer aufgefasst werden, die von den aktiven Gestaltern für ihre kommuni-
kativen Anliegen eingespannt werden, ohne dass sich ihre eigene Einstellung zu
diesen kommunikativen Prozessen angesichts ihres , Schweigens' nachvollzie-
hen ließe.144
Gruppen und Gesellschaften sind also immer auch als Wertegemeinschaften
beschreibbar, wobei die Bedeutung dieses ideellen Fundaments für die Kohäsion
der Gemeinschaft je nach Konstellation und Situation variiert. Die Spannweite
kann dabei von einer bloßen Affirmation anderweitig grundgelegter Beziehun-
gen bis hin zu einer Etablierung vollkommen neuer Bindungen reichen. Die
konkrete Ausprägung wird aber insbesondere in solchen Kontexten fassbar, in
denen Werte- und Normendiskurse etwa durch Konflikte eine Intensivierung
143 Vgl. hierzu auch Mersch, Überlegungen, S. 17, welche auf die komplexitätsreduzierende Di-
mension von Werten verweist.
144 Gleiches gilt für ,historische' Personen, die in die Wertegemeinschaft eingeschrieben werden
können. Vgl. hierzu etwa den Abschnitt III.3.1.1.3. in der vorliegenden Arbeit.
I. „Ein Baum voller Kutten", oder: Worum es in dieser Studie gehen soll
timierung von Sachverhalten unterschiedlichster Art, indem sie diese als er-
strebenswert und gut erweisen. Sie können somit als nachträgliche Sinnstiftun-
gen von Geschehen gedeutet werden, deren Einsatz zugleich den situativen
Interessen und kommunikativen Anliegen der Akteure unterliegen. Der affir-
mative Charakter von Werten wird dabei durch ihre emotional-affektive Auf-
ladung noch weiter gesteigert. Da Werte als das Gute und Wünschenswerte
schlechthin präsentiert werden, können sie sich normativen Begründungs-
zwängen oder Rationalisierungen entziehen. Gültigkeit wird im Falle von
Wertediskursen zumeist a priori beansprucht, seltener hergeleitet, kaum jedoch
problematisiert. Diese suggestive Überzeugungskraft bildet einen gewichtigen
argumentativen Mehrwert, da Werte dementsprechend nicht mit der Kontin-
genz oder dem Voraussetzungsreichtum konfrontiert sind, denen andere For-
men der Beweisführung unterliegen.143
Vor diesem Hintergrund sind Werte als dezidiert soziale Phänomene zu
verstehen, da sie einerseits durch kommunikative Prozesse selbst generiert und
konstruiert werden, andererseits durch ihre Funktionalisierungen in diesen
Prozessen wesentlich zur Verortung der in die Interaktion involvierten Akteure
beitragen. Denn das Bekenntnis zu beziehungsweise die Ablehnung von Werten
beinhaltet neben anderen Aussagegehalten immer auch eine soziale Positionie-
rung des jeweiligen Akteurs, da jede Form der Vergemeinschaftung durch einen
geteilten Pool von Vorstellungen des Guten und Erstrebenswerten gekenn-
zeichnet ist. Die Frage, ob die in der gemeinsamen Kommunikation verhandelten
Werte von den Akteuren auch im Sinne einer handlungsleitenden Identität in-
ternalisiert worden sind, lässt sich weder beantworten noch beeinflusst sie den
Aspekt der sozialen Verortung, da allein der kommunikative Prozess für diese
auschlaggebend ist. Schon die Zuschreibung von Wertehaltungen an unbetei-
ligte Dritte kann diese in eine Gemeinschaft einordnen, wie auch umgekehrt die
Behauptung einer Verletzung oder Ablehnung der normativen Ordnung einen
Ausschluss nach sich zieht. Solche Individuen können als passive Diskursteil-
nehmer aufgefasst werden, die von den aktiven Gestaltern für ihre kommuni-
kativen Anliegen eingespannt werden, ohne dass sich ihre eigene Einstellung zu
diesen kommunikativen Prozessen angesichts ihres , Schweigens' nachvollzie-
hen ließe.144
Gruppen und Gesellschaften sind also immer auch als Wertegemeinschaften
beschreibbar, wobei die Bedeutung dieses ideellen Fundaments für die Kohäsion
der Gemeinschaft je nach Konstellation und Situation variiert. Die Spannweite
kann dabei von einer bloßen Affirmation anderweitig grundgelegter Beziehun-
gen bis hin zu einer Etablierung vollkommen neuer Bindungen reichen. Die
konkrete Ausprägung wird aber insbesondere in solchen Kontexten fassbar, in
denen Werte- und Normendiskurse etwa durch Konflikte eine Intensivierung
143 Vgl. hierzu auch Mersch, Überlegungen, S. 17, welche auf die komplexitätsreduzierende Di-
mension von Werten verweist.
144 Gleiches gilt für ,historische' Personen, die in die Wertegemeinschaft eingeschrieben werden
können. Vgl. hierzu etwa den Abschnitt III.3.1.1.3. in der vorliegenden Arbeit.