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Bruhn, Stephan; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]; Christian-Albrechts-Universität zu Kiel [Contr.]; Jan Thorbecke Verlag [Contr.]
Reformer als Wertegemeinschaften: zur diskursiven Formierung einer sozialen Gruppe im spätangelsächsischen England (ca. 850-1050) — Mittelalter-Forschungen, Band 68: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2022

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.69837#0066

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1.5. Der Eingang in die Heilsgemeinschaft als einendes Ziel

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erfahren - und genau solche Kontexte lassen sich in einem heuristischen Sinne als
Reformen fassen.
Werte können mithin sozial inkludierend wirken, indem ihre affirmative
Kraft für die diskursive Stabilisierung oder Neubildung von Gruppen genutzt
wird. Die Aushandlung sozialer Ordnungen ist allerdings nicht nur durch In-
tegrations-, sondern auch durch Desintegrationsprozesse geprägt, im Zuge
deren Individuen von der Gemeinschaft bewusst ausgeschlossen werden. Eine
bloße Beleuchtung inkludierender Praktiken reicht also zur Erfassung einer so-
zialen Gruppe nicht aus, sie muss auch exkludierende Elemente berücksichti-
gen.145 Hierfür scheint der Begriff der Werte jedoch aufgrund seiner positiven
Konnotationen ebenso ungeeignet zu sein wie derjenige der Unwerte, der den
Fokus allzu sehr auf den Aspekt der Gegenkultur lenkt, womit wiederum die
Gefahr gegeben wäre, die Wertegemeinschaft der Reformer zugunsten des ver-
meintlich Anderen aus dem Blick zu verlieren. Stattdessen soll für die Erfassung
des ausschließenden Moments in Gruppendiskursen der Begriff der Normen
fruchtbar gemacht werden, der hierzu allerdings in Anlehnung an Hans Joas im
Sinne der eigenen Heuristik erläutert werden muss.
Joas bestimmt das Verhältnis von Werten zu Normen vor allem anhand der
Modi ihrer Geltungserzeugung und Bindekraft sowie ihrem Bezug zum
menschlichen Handeln.146 Während Werte „attraktiv" seien und ein emotional
aufgeladenes, affektives Bekenntnis seitens des Individuums erforderten, um
normativ bindend zu wirken, verführen Normen „restriktiv", indem sie dem
Individuum ein bestimmtes Verhalten vorschreiben.147 Im Falle der Normen
erfolgt die Bindung also weniger durch ein bejahendes Bekenntnis als vielmehr
durch ein Unterlassen von Handlungen, welches sich der Diskursivierung ent-
zieht. Stattdessen wird das Verhältnis eines Individuums zur Norm nur in sol-
chen Fällen ersichtlich, in denen es zum Regelbruch und damit zur Normen-
verletzung kommt. Werte hingegen schränken den Aktionsradius nicht ein,
sondern weiten ihn aus, da sie als Internalisierung von Verhaltensdispositionen
zu verstehen sind, die im Ideal- beziehungsweise Extremfall gar zu einer Na-
turalisierung der Wertevorstellungen führen kann.148 Dementsprechend grenzen
Werte bei aller Selbstbeschränkung die Freiheit des Individuums nicht ein, wo-
hingegen Normen stets durch ein Moment der Unfreiheit gekennzeichnet sind.
Diese Bemerkungen lassen sich insofern auf die inkludierenden und exklu-
dierenden Praktiken von Gruppendiskursen beziehen, als einerseits das Be-
kenntnis zum moralisch Richtigen auch gegen Widerstände und konkurrierende
Verhaltensmaximen ein wesentliches Element der Einordnung eines Individu-
ums in die Gruppe der Reformer bildet. Normen können dabei zwar in Form von
Rekursen auf biblische und patristische Texte als Referenzpunkte für das Agieren

145 Zur Bedeutung von Abgrenzungsprozessen vgL etwa Bubert, Identität, S. 316f., mit den dort
genannten Verweisen zum,Social Identity Approach'.
146 Vgl. hierzu die Bemerkungen bei Stollberg-Rilinger, Historiker, sowie Dies., Einleitung.
147 Vgl. dazu Joas, Einleitung, S. 14 f., auch wenn der Fokus hier nicht auf der Bestimmung exklu-
dierender und inkludierender Gruppenpraktiken liegt.
148 Zur Naturalisierung von Diskursen vgl. auch Landwehr, Diskursanalyse, S. 29.
 
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