Studien und Forschungen
791
Nichts also deutet hier auf das Schlangen-
wunder, alles aber auf blendende übermäch-
tige Göttererscheinung. Daß der schießende
Gott, den ich über dem „vom himmlischen Ge-
schoß Niedergestreckten" (fitto dal telo celestial)
in dem vorgeblichen „Aufrichter der Schlange"
nachgewiesen zu haben glaube, nur die Ge-
berde des Bogenspanners macht (ohne sicht-
baren Bogen), hat die ausdrückliche Analogie
des „bersaglio" für sich. In der Reihe der
Medaillons sekundiert ihm der Saul auf Gilboa,
der auch nur die Geberde des Degenstoßes
macht. Der Künstler vermied offensichtlich, wenn
irgend angängig, die die Komposition störend
durchschneidenden Waffen bei den um so ener-
gischer dargestellten Kampfbewegungen anzu-
bringen. Oder er eliminierte und reduzierte sie
so, wie z. B. in unserer Medaillonreihe die
Waffen, mit denen die Söhne des Königs Sanherib
ihren Vater angreifen.
Noch auf etwas möchte ich nicht unterlassen
hinzuweisen, worauf mich gerade erst die fast
grob deutliche Wiedergabe der Handzeichnung
bei Frey gebracht hat. Der linke obere Rand
der Tondoskizze ist durch allerlei Konturen aus-
gefüllt, die als bloßes Wolkengeschiebe, wofür
ich sie anfangs hielt, doch zu eigenwillig und
vor allem in diesem nur das Notwendigste fest-
haltenden zeichnerischen „Gedankenblitz" doch
zu vordringlich erscheinen. Betrachtet man sie
wiederholt und aufmerksam, so wird sich das
Bild eines auf dem Kriegswagen von links in
das Bild Hineinstürmenden (von hinten Ge-
sehenen, anscheinend auch Behelmten) ergeben.
Es wäre Mars, der hier seinem Bruder Apollo
auf der anderen Seite sekundierte. Auf dem
Kriegswagen wird „Gradivus" gerade von dem
für Dante so bedeutungsvollen Statius (Thebais
III 220 ff.) dargestellt. Er kann in dieser Form
der Bewaffnung (Timbreo, Pallade e Marte
armati Purg. K., 28f.) wohl durch einen Inter-
preten Dantes dem Künstler vorgeführt worden
sein.
Denn die Stelle in Dantes Purgatorio wird
ausführlich kommentiert und das himmlische Ge-
schoß (telo celestial) von Landino nach Ovid
(Met. I, 144) auf Zeus' Blitzstrahl gedeutet
(passato dal folgore col quale Giove dal cielo
l'havea percosso). Der das Geschoß nach unten
entsendende Gott wäre danach nicht Apollo,
sondern Zeus, das Attribut an seiner Rechten,
das ich als zeichnerische Vorführung der los-
schnellenden Hand zu erklären suchte, einfach
das herkömmliche Blitzbündel, dem die linke
Hand nach unten die Richtung vorschreibt. Also
genau wie auf dem Malcolm-Blatt des Brit.
Museums und dem zu Windsor vom Phaeton-
Sturz, „quando fu Giove arcanamente giusto".
Da Zeus (Giove) zum Unterschied von „den
Göttern" für Dante-Michelangelo Gott an sich
bedeutet, so wäre damit auch seine ausschließ-
liche Hervorhebung in dem vorläufigen „Blitz-
gedankenentwurf" hinlänglich erklärt. Auch die
Vermummung des in der Donnerwolke geheim
(arcanamente) richtenden Gottes durch eine Art
Tarnhelm!
g
□ DIE PHOTOGRAPHIE □
ENTDECKERIN KUNSTWISSEN-
□ SCHAFTLICHER WERTE □
Drei Beispiele können zeigen wie mittelst
der Photographie auch von ferne her Er-
forschungen erfolgreich ausführbar und Auf-
schlüsse zu erlangen sind, die sonst am Ort
nur mit größter Aufmerksamkeit undbei günstigen
Lichtverhältnissen möglich wären.
Die erste Photographie eines der
Igundi Michelangelos im Deckenge-
mälde der Capella Sixtina kaufte ich in
Rom 1890. Die jetzt von Braun & Co. in Dornach
käuflichen Photographien sind unbrauchbar für
Erforschungen der Technik des Gemäldes weil
sie retouchiert sind. Auf eine Anfrage in Dornach,
ob auch unberührte Platten kopiert wurden,
schrieb die Firma daß sie die Beaderung der
Risse habe fortmalen lassen!
Mit Hilfe der Photographie läßt sich die Zahl
der Tagewerke, die Michelangelo für die Decke
brauchte, annähernd berechnen — auch der kluge
Aufbau und die vortreffliche Rücksichtnahme auf
die schwierige Freskotechnik durch Feststellung
der Linienführung für die Ansätze des nächsten
Tagewerkes nachweisen. Man könnte sogar
die Grenzen, gewissermaßen die Nähte des
ganzen Teppiches der einzelnen Tagewerke
bestimmen, eine Arbeit die ich beabsichtige.
Steinmann bringt in seinem großen Werke von
der Sixtinischen Kapelle über die Tagewerke und
ihre Grenzen bei einigen Figuren Abbildungen
und Angaben — er dürfte durch den Restaurator
Prof. Seitz auf diese Erscheinungen hingelenkt
worden sein, indem er auf dem Gerüst aus
nächster Nähe die Wände studieren und befühlen
konnte.
In unserem Bilde läuft die Linie des einge-
putzten Tagewerkes für den Kopf entlang den
Schlüsselbeinen (kluger organischer Schnitt im
Akt) dann um die Locken, hierauf senkrecht ab-
weichend in die Höhe, sodann dicht über den
52
791
Nichts also deutet hier auf das Schlangen-
wunder, alles aber auf blendende übermäch-
tige Göttererscheinung. Daß der schießende
Gott, den ich über dem „vom himmlischen Ge-
schoß Niedergestreckten" (fitto dal telo celestial)
in dem vorgeblichen „Aufrichter der Schlange"
nachgewiesen zu haben glaube, nur die Ge-
berde des Bogenspanners macht (ohne sicht-
baren Bogen), hat die ausdrückliche Analogie
des „bersaglio" für sich. In der Reihe der
Medaillons sekundiert ihm der Saul auf Gilboa,
der auch nur die Geberde des Degenstoßes
macht. Der Künstler vermied offensichtlich, wenn
irgend angängig, die die Komposition störend
durchschneidenden Waffen bei den um so ener-
gischer dargestellten Kampfbewegungen anzu-
bringen. Oder er eliminierte und reduzierte sie
so, wie z. B. in unserer Medaillonreihe die
Waffen, mit denen die Söhne des Königs Sanherib
ihren Vater angreifen.
Noch auf etwas möchte ich nicht unterlassen
hinzuweisen, worauf mich gerade erst die fast
grob deutliche Wiedergabe der Handzeichnung
bei Frey gebracht hat. Der linke obere Rand
der Tondoskizze ist durch allerlei Konturen aus-
gefüllt, die als bloßes Wolkengeschiebe, wofür
ich sie anfangs hielt, doch zu eigenwillig und
vor allem in diesem nur das Notwendigste fest-
haltenden zeichnerischen „Gedankenblitz" doch
zu vordringlich erscheinen. Betrachtet man sie
wiederholt und aufmerksam, so wird sich das
Bild eines auf dem Kriegswagen von links in
das Bild Hineinstürmenden (von hinten Ge-
sehenen, anscheinend auch Behelmten) ergeben.
Es wäre Mars, der hier seinem Bruder Apollo
auf der anderen Seite sekundierte. Auf dem
Kriegswagen wird „Gradivus" gerade von dem
für Dante so bedeutungsvollen Statius (Thebais
III 220 ff.) dargestellt. Er kann in dieser Form
der Bewaffnung (Timbreo, Pallade e Marte
armati Purg. K., 28f.) wohl durch einen Inter-
preten Dantes dem Künstler vorgeführt worden
sein.
Denn die Stelle in Dantes Purgatorio wird
ausführlich kommentiert und das himmlische Ge-
schoß (telo celestial) von Landino nach Ovid
(Met. I, 144) auf Zeus' Blitzstrahl gedeutet
(passato dal folgore col quale Giove dal cielo
l'havea percosso). Der das Geschoß nach unten
entsendende Gott wäre danach nicht Apollo,
sondern Zeus, das Attribut an seiner Rechten,
das ich als zeichnerische Vorführung der los-
schnellenden Hand zu erklären suchte, einfach
das herkömmliche Blitzbündel, dem die linke
Hand nach unten die Richtung vorschreibt. Also
genau wie auf dem Malcolm-Blatt des Brit.
Museums und dem zu Windsor vom Phaeton-
Sturz, „quando fu Giove arcanamente giusto".
Da Zeus (Giove) zum Unterschied von „den
Göttern" für Dante-Michelangelo Gott an sich
bedeutet, so wäre damit auch seine ausschließ-
liche Hervorhebung in dem vorläufigen „Blitz-
gedankenentwurf" hinlänglich erklärt. Auch die
Vermummung des in der Donnerwolke geheim
(arcanamente) richtenden Gottes durch eine Art
Tarnhelm!
g
□ DIE PHOTOGRAPHIE □
ENTDECKERIN KUNSTWISSEN-
□ SCHAFTLICHER WERTE □
Drei Beispiele können zeigen wie mittelst
der Photographie auch von ferne her Er-
forschungen erfolgreich ausführbar und Auf-
schlüsse zu erlangen sind, die sonst am Ort
nur mit größter Aufmerksamkeit undbei günstigen
Lichtverhältnissen möglich wären.
Die erste Photographie eines der
Igundi Michelangelos im Deckenge-
mälde der Capella Sixtina kaufte ich in
Rom 1890. Die jetzt von Braun & Co. in Dornach
käuflichen Photographien sind unbrauchbar für
Erforschungen der Technik des Gemäldes weil
sie retouchiert sind. Auf eine Anfrage in Dornach,
ob auch unberührte Platten kopiert wurden,
schrieb die Firma daß sie die Beaderung der
Risse habe fortmalen lassen!
Mit Hilfe der Photographie läßt sich die Zahl
der Tagewerke, die Michelangelo für die Decke
brauchte, annähernd berechnen — auch der kluge
Aufbau und die vortreffliche Rücksichtnahme auf
die schwierige Freskotechnik durch Feststellung
der Linienführung für die Ansätze des nächsten
Tagewerkes nachweisen. Man könnte sogar
die Grenzen, gewissermaßen die Nähte des
ganzen Teppiches der einzelnen Tagewerke
bestimmen, eine Arbeit die ich beabsichtige.
Steinmann bringt in seinem großen Werke von
der Sixtinischen Kapelle über die Tagewerke und
ihre Grenzen bei einigen Figuren Abbildungen
und Angaben — er dürfte durch den Restaurator
Prof. Seitz auf diese Erscheinungen hingelenkt
worden sein, indem er auf dem Gerüst aus
nächster Nähe die Wände studieren und befühlen
konnte.
In unserem Bilde läuft die Linie des einge-
putzten Tagewerkes für den Kopf entlang den
Schlüsselbeinen (kluger organischer Schnitt im
Akt) dann um die Locken, hierauf senkrecht ab-
weichend in die Höhe, sodann dicht über den
52