^^^ LITERATUR ^^
Max Deri, Das Rollwerk in der deut-
schen Ornamentik des XVI. und XVII. Jahr-
hunderts. Berlin. Schuster und Bufleb 1906.
Die Arbeit untersucht nicht im einzelnen, wie
sich das Renaissanceornament in den verschie-
denen deutschen Kunstkreisen entwickelt hat,
gibt keine erschöpfende Darstellung aller Arten
und Abarten, keine ausführliche Chronologie.
Was der Verfasser bietet, ist eher eine Art
Physiologie und Psychologie des Rollwerks.
Das spätgotisdhe Pflanzenornament um 1450
ist durchaus irrational. Ohne Mittelachse, ohne
irgendwie sichtbare Regelmäßigkeit, ohne Geo-
metrisierung der Teile, ohne eine andere Ge-
setzlichkeit des Baues als die des inneren or-
ganischen Wachstums sprechen die Formen un-
mittelbar zum Gefühl, wie sonst die der Natur.
Dieses Ornament durfte sich nicht ausleben.
Störend tritt ein neues Ideal dazwischen, das
Ideal der italienischen Renaissancedekoration.
Diese italienische Renaissancedekoration ist
durchaus rational, sie hat tektonischen Charakter.
Sie betont die Achsen, sie hält sich streng an
die Forderungen der Symmetrie und des Gleich-
gewichts, sie gibt Gliederung, Schönheit der Ver-
hältnisse. Darnach wird das deutsche Ornament
rationalisiert. Seine irgendwohin — auch in die
Tiefe, wo es sein kann — kontinuierlich flutende
Bewegung weicht der symmetrischen Kompo-
sition in der Fläche. Zusammenschluß um eine
Mitte oder eine mittlere Achse, Gleichgewicht.
Beschränkung auf eine Raumschicht von mäßiger
Dicke (also Aufhören des unbegrenzten Aus-
schweifens in die Tiefe): alle diese Eigentüm-
lichkeiten dienen demselben Ziel: das Ornament
begreifbar zu machen. Es wird rationalisiert.
Und der Verfasser bringt diese neue Tendenz
in Zusammenhang mit dem Sieg des Humanis-
mus in Deutschland, nicht in dem rein äußerlichen
Sinne, daß die Humanisten und ihre Freunde
die Künstler zur Aufnahme der neuen Formen
allmählich bestimmt hätten, sondern in dem
tieferen, daß der humanistische Rationalismus,
die neue Bildung des Intellekts in breiteren
Kreisen Schule machte und so allmählich ein
Wohlgefallen an der italienischen Art heran-
erzogen hat. So tritt an die Stelle der deutschen
Spätgotik auch im Ornament die Renaissance.
Ich muß hier eine Bemerkung einschalten.
Der Verfasser wendet sich auf Seite 21 ff. aus-
führlich gegen Schmarsows Renaissancebegriff.
Es ist natürlich sein gutes Recht, „Renaissance"
nur den „rationalisierten" Stil im italienischen
Sinne zu nennen. Aber seine Ausführungen
gegen Schmarsow treffen die Sache nicht. Wir
gehen davon aus, daß zwischen strenger Gotik
und „Spätgotik" ein Gegensatz besteht, der sich
nur unter der Annahme eines völligen Wandels
der Empfindung begreifen läßt. Was Deri von
der spätgotischen Halle sagt (S. 22 Anm.) kann
nie und nimmer von einer Kathedrale des XIII.
Jahrhunderts gesagt werden. Andererseits be-
merken wir, daß eben der Wandel der Empfin-
dung, den wir in Deutschland beobachten, auch
in Italien der ausschlaggebende Faktor in der
Entwickelung zur „Renaissance" ist: der Sieg
des Malerischen. Masaccio unterscheidet sich
ebenso von Giotto, wie Jan van Eyck von
irgend einem Gotiker des XIV. Jahrhunderts.
Masaccio und Jan van Eyck sind aber einig in
dem Bestreben, ein „Bild" zu gestalten, die
Forderungen des Auges nicht länger den For-
derungen des Ausdrucks zu opfern. Und dabei
sind wiederum Masaccios Gekreuzigter zwischen
den Stiftern und das Arnolfinibild des Jan
van Eyck genau so verschieden, wie eine Ba-
silika des Brunellesco und eine deutsche spät-
gotische Halle. Also, die Frage ist nicht: sind
deutsche und italienische Kunst im XV. Jahr-
hundert einander so ähnlich, daß wir jene eben-
falls Renaissancekunst nennen dürfen? Sondern:
ist nicht die deutsche Spätgotik ebenso und im
gleichen Sinne verschieden von der Hochgotik,
wie es die italienische Renaissance von der
italienischen Gotik ist? Das behaupten wir;
denn wir finden in Italien dieselbe Wandlung
des Grundempfindens wie im Norden: die Mimik
räumt der Malerei das Feld. Bevor man über
vorurteilfreie Beobachtung Betrachtungen an-
stellt, muß man den Gegner in seinem eigenen
Lager aufsuchen. Ich bin überzeugt, wenn der
Verfasser sich einmal ernstlich mit dem Gegen-
satz zwischen Hochgotik und Spätgotik befaßt
hat, wird er seine Anschauungen ebenso er-
freulich modifizieren, wie er uns in der Bewer-
tung der Spätgotik an sich erfreulich nahe kommt.
Aber weiter. Der Humanismus in Deutsch-
land hatte kein langes Leben. An seine Stelle
tritt die Reformation, und damit siegt das volks-
tümliche Empfinden, das Gefühl überhaupt über
den Rationalismus. Denselben Sieg des rein
Gefühlsmäßigen über das Rationale beobachten
wir in der Entwickelung des Ornaments.
Max Deri, Das Rollwerk in der deut-
schen Ornamentik des XVI. und XVII. Jahr-
hunderts. Berlin. Schuster und Bufleb 1906.
Die Arbeit untersucht nicht im einzelnen, wie
sich das Renaissanceornament in den verschie-
denen deutschen Kunstkreisen entwickelt hat,
gibt keine erschöpfende Darstellung aller Arten
und Abarten, keine ausführliche Chronologie.
Was der Verfasser bietet, ist eher eine Art
Physiologie und Psychologie des Rollwerks.
Das spätgotisdhe Pflanzenornament um 1450
ist durchaus irrational. Ohne Mittelachse, ohne
irgendwie sichtbare Regelmäßigkeit, ohne Geo-
metrisierung der Teile, ohne eine andere Ge-
setzlichkeit des Baues als die des inneren or-
ganischen Wachstums sprechen die Formen un-
mittelbar zum Gefühl, wie sonst die der Natur.
Dieses Ornament durfte sich nicht ausleben.
Störend tritt ein neues Ideal dazwischen, das
Ideal der italienischen Renaissancedekoration.
Diese italienische Renaissancedekoration ist
durchaus rational, sie hat tektonischen Charakter.
Sie betont die Achsen, sie hält sich streng an
die Forderungen der Symmetrie und des Gleich-
gewichts, sie gibt Gliederung, Schönheit der Ver-
hältnisse. Darnach wird das deutsche Ornament
rationalisiert. Seine irgendwohin — auch in die
Tiefe, wo es sein kann — kontinuierlich flutende
Bewegung weicht der symmetrischen Kompo-
sition in der Fläche. Zusammenschluß um eine
Mitte oder eine mittlere Achse, Gleichgewicht.
Beschränkung auf eine Raumschicht von mäßiger
Dicke (also Aufhören des unbegrenzten Aus-
schweifens in die Tiefe): alle diese Eigentüm-
lichkeiten dienen demselben Ziel: das Ornament
begreifbar zu machen. Es wird rationalisiert.
Und der Verfasser bringt diese neue Tendenz
in Zusammenhang mit dem Sieg des Humanis-
mus in Deutschland, nicht in dem rein äußerlichen
Sinne, daß die Humanisten und ihre Freunde
die Künstler zur Aufnahme der neuen Formen
allmählich bestimmt hätten, sondern in dem
tieferen, daß der humanistische Rationalismus,
die neue Bildung des Intellekts in breiteren
Kreisen Schule machte und so allmählich ein
Wohlgefallen an der italienischen Art heran-
erzogen hat. So tritt an die Stelle der deutschen
Spätgotik auch im Ornament die Renaissance.
Ich muß hier eine Bemerkung einschalten.
Der Verfasser wendet sich auf Seite 21 ff. aus-
führlich gegen Schmarsows Renaissancebegriff.
Es ist natürlich sein gutes Recht, „Renaissance"
nur den „rationalisierten" Stil im italienischen
Sinne zu nennen. Aber seine Ausführungen
gegen Schmarsow treffen die Sache nicht. Wir
gehen davon aus, daß zwischen strenger Gotik
und „Spätgotik" ein Gegensatz besteht, der sich
nur unter der Annahme eines völligen Wandels
der Empfindung begreifen läßt. Was Deri von
der spätgotischen Halle sagt (S. 22 Anm.) kann
nie und nimmer von einer Kathedrale des XIII.
Jahrhunderts gesagt werden. Andererseits be-
merken wir, daß eben der Wandel der Empfin-
dung, den wir in Deutschland beobachten, auch
in Italien der ausschlaggebende Faktor in der
Entwickelung zur „Renaissance" ist: der Sieg
des Malerischen. Masaccio unterscheidet sich
ebenso von Giotto, wie Jan van Eyck von
irgend einem Gotiker des XIV. Jahrhunderts.
Masaccio und Jan van Eyck sind aber einig in
dem Bestreben, ein „Bild" zu gestalten, die
Forderungen des Auges nicht länger den For-
derungen des Ausdrucks zu opfern. Und dabei
sind wiederum Masaccios Gekreuzigter zwischen
den Stiftern und das Arnolfinibild des Jan
van Eyck genau so verschieden, wie eine Ba-
silika des Brunellesco und eine deutsche spät-
gotische Halle. Also, die Frage ist nicht: sind
deutsche und italienische Kunst im XV. Jahr-
hundert einander so ähnlich, daß wir jene eben-
falls Renaissancekunst nennen dürfen? Sondern:
ist nicht die deutsche Spätgotik ebenso und im
gleichen Sinne verschieden von der Hochgotik,
wie es die italienische Renaissance von der
italienischen Gotik ist? Das behaupten wir;
denn wir finden in Italien dieselbe Wandlung
des Grundempfindens wie im Norden: die Mimik
räumt der Malerei das Feld. Bevor man über
vorurteilfreie Beobachtung Betrachtungen an-
stellt, muß man den Gegner in seinem eigenen
Lager aufsuchen. Ich bin überzeugt, wenn der
Verfasser sich einmal ernstlich mit dem Gegen-
satz zwischen Hochgotik und Spätgotik befaßt
hat, wird er seine Anschauungen ebenso er-
freulich modifizieren, wie er uns in der Bewer-
tung der Spätgotik an sich erfreulich nahe kommt.
Aber weiter. Der Humanismus in Deutsch-
land hatte kein langes Leben. An seine Stelle
tritt die Reformation, und damit siegt das volks-
tümliche Empfinden, das Gefühl überhaupt über
den Rationalismus. Denselben Sieg des rein
Gefühlsmäßigen über das Rationale beobachten
wir in der Entwickelung des Ornaments.