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Tietze, Hans [Bearb.]; Tietze-Conrat, Erica [Bearb.]; Dürer, Albrecht [Ill.]
Kritisches Verzeichnis der Werke Albrecht Dürers (1): Der junge Dürer: Verzeichnis der Werke bis zur venezianischen Reise im Jahre 1505 — Augsburg: Benno Filser Verlag G.M.B.H., 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.55259#0426
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IX. ZUM MARIENLEBEN

Dürers Bemühungen um die menschliche Proportion pflegen - auch wegen der
wissenschaftlichen Methode ihrer Anwendung - als Fremdkörper in seinem
Schaffen empfunden zu werden; tatsächlich dienen sie einem Erkenntnistrieb, dessen
Vorherrschaft den zeichnerischen Äußerungen dieser Art die frei strömende Frische
produktiven Schaffens raubt und sie zu illustrierenden Diagrammen wissenschaftlicher
Lehrsätze herabdrückt. Dennoch ist die Trennung keine scharfe; trotz der hemmen-
den Fessel bleibt es die Hand Dürers, die hier tätig ist, trotz der nicht ästhetischen Ein-
stellung schwingt auch in diesen schematischen Gebilden etwas von seinem künst-
lerischen Willen mit; vornehmlich in der uns hier allein beschäftigenden ersten
Periode der Proportionsstudien - vor 1505 - liegen die Quellgebiete beider Interessen-
sphären noch ungeschieden nebeneinander. Aber auch in der späteren Zeit systema-
tischer Abwandlung gesetzlicher Abmessungsverhältnisse bleibt Dürers Proportions-
lehre mit dem Kern seiner künstlerischen Überzeugungen aufs engste verwachsen; sie
ist der sichtbarste Ausdruck der Überwindung des »Brauchs« durch die »Kunst«, also
der Rationalisierung der Empirie, die uns Panofsky als wesentlichstes Element von
Dürers Kunstauffassung erkennen gelehrt hat. Sie bildet seinen Anteil am großen Pro-
blem der europäischen Renaissance.
Die Umstellung auf den neuen Boden spielt sich in dem Lustrum von 15001505 ab
und vollendet sich im zweiten venezianischen Aufenthalt von 1505-1507. Bei einem
derartigen geistigen Prozeß scheint es richtiger zu sein, nicht eine scharfe Grenzscheide,
sondern eine breite Zone allmählichen Übergangs anzunehmen; die Art, wie sich die
Idee der menschlichen Proportion aus der Praxis der künstlerischen Tätigkeit heraus-
entwickelt, ist allgemein symptomatisch. Daß dieses Interesse um 1500 die Schwelle
historischer Erkennbarkeit überschreitet, möchten wir mit einer von Barbari aus-
gegangenen Anregung in Zusammenhang bringen; was sie fruchtbar machte, war
nicht nur die Bereitschaft des Bodens, der sie empfing, sondern auch der Umstand, daß
sie nicht allein blieb, sondern zu einer Gruppe ähnlich wirkender Einflüsse gehört. Die
Proportionsstudien sind nur ein Teil des allgemeinen neuen Kunstgefühls, das Barbari
in Dürer auslöste oder bestätigte; das hat für dessen spätere Rückerinnerung vielleicht
die Rolle Barbaris für seine Proportionsstudien überbetont. In Dürers äußerem Dasein
ist uns aus dieser Zeit nichts bekannt, was einen Anstoß in dieser Richtung hätte geben
können als die mutmaßlich wiederholte Begegnung mit Barbari; er muß Dürer wohl in
diesen Jahren als der Vermittler der großen Kunst erschienen sein.
In engstem Zusammenhang mit den Proportionsstudien steht Dürers Interesse an per-
spektivischer Gestaltung der Architektur; diese Wechselbeziehung zwischen Rationali-
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