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Wolf, Gunther
Satura mediaevalis: Gesammelte Schriften ; Hrsg. zum 65. Geburtstag (Band 3): Stauferzeit — Heidelberg, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.15265#0011

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Das 12. Jahrhundert
als Geburtsstunde der Moderne
und die Frage
nach der Krise der Geschichtswissenschaft

Wer sich heute mit Geschichte, mit Vergangenem, beschäftigt, erst recht, wer sich mit
dem sogenannten Mittelalter befaßt, vollends wer über ein mittelalterliches Thema eine
Tagung konzipiert oder bestreiten hilft, muß sich vor der Öffentlichkeit rechtfertigen,
vor der von ihr mehr oder minder vertretenen Gesellschaft. Er muß sich die Frage nach
der Relevanz gefallen lassen, die das jeweilige Sujet für die Gegenwart oder für die Zu-
kunftsbewältigung hat.

So mag es nicht nur erlaubt, sondern auch sinnvoll sein, angesichts einer Tagung über
das Thema ,antiqui - moderni: Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im
späteren Mittelalter', über dieses Thema unter der speziellen Fragestellung der Moder-
nität und der Krise der Geschichtswissenschaft einstweilen nur ein paar Reflexionen an-
zustellen*. Einmal scheint das 12. Jahrhundert tatsächlich die Zäsur, der Beginn des spä-
teren' Mittelalters, einer neuen Epoche prima vista zu sein, der Einstieg in die Problema-
tik unseres Themas also von diesem Zeitansatz möglich, eine Befragung jener Zeit aber
auf ihre für uns relevante Qualität zwingend geboten. Zum andern sind mit der Formu-
lierung des Themas ,antiqui - moderni: Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußt-
sein' Kategorien geschichtlicher, d. h. durch die Dimension des In-der-Welt-Seins be-
dingter Sehweise gegeben, die je nach dem Weltbild bzw. den erkenntnisleitenden Inter-
essen nicht ohne Wertimplikation sind, entweder peiorativ oder positiv-progressiv. Ent-
weder wird ,antiquus' als das gute Alte verstanden, als jenes paradiesisch-goldene Zeit-
alter, von dem her es nur einen Abstieg gibt. Dann ist,modernus' neu im Sinne von je-
weils weiterem Abstieg, oft von ,cupiditas rerum novarum', von Neuerungssucht, die
das gute Alte, das es nach Vermögen zu erhalten gilt, zu zerstören versucht. Es ist dies
eine pessimistische Weltanschauung, die auf Vorstellungen von Untergang, von Abfall,
von Strafe und Gericht verweist, damit implicite aber auch auf den einst gut geschaffe-
nen Menschen. Demgegenüber steht, einmal biblisch und heilsgeschichtlich, zum andern
auf der Grundlage der Vernunft seit der Aufklärung die Anschauung, daß die Gegen-
wart der Vergangenheit in jeder Weise überlegen sei, daß die Zeit entweder durch ein ra-
dikal veränderndes Ereignis oder durch steten Erkenntnisgewinn den Menschen befähi-
ge, sein Sein als ein verbessertes zu denken und zu gestalten - eine Fortschrittsgläu-

* Die folgenden Ausführungen sind eine knappe Durchführung eines Thesenblattes zu diesem
Thema auf dem 18. Mediävistentag vom 30. 8. - 2. 9.1972. Das Thema wird demnächst breiter
abgehandelt in einem Band der Reihe Jmpulse der Forschung' bei der Wiss. Buchgesellschaft
Darmstadt. (Nicht erschienen [1995]).

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