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Wolf, Gunther
Satura mediaevalis: Gesammelte Schriften ; Hrsg. zum 65. Geburtstag (Band 3): Stauferzeit — Heidelberg, 1995

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https://doi.org/10.11588/diglit.15265#0013

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fern sie nur etwas wegschiebt oder wegdrängt, was unbegriffen im Dunkeln bleibt, kei-
nen Gewinn anzeigt, sondern - wie im'Individuell-Personalen - den Verlust der zeitli-
chen Perspektive, und R. Wittram schreibt, daß der Anspruch der Zeitgenossen auf
schlüssige Entwicklungsreihen mit Beweisen aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus (da-
bei Gewißheit im Sinne des Beweisbaren, nicht nur des Nachweisbaren) entspringe, das
nach stets wieder Verfügbarem strebe, 'Wie ich meine: aus dem Empfinden der existenti-
ellen Angst das Streben nach Gottähnlichkeit.

Indem wir auf den Ausgangspunkt unseres Generalthemas ,das Traditions- und Fort-
schrittsbewußtsein' und seine kategoriale'n Begriffe: ,antiquus' und ,modernus' in seiner
Aktualität zurückkommen, behaupten wir zugleich, daß aus der Erschütterung durch
geschichtliche Grenzerlebnisse in besonderer Weise sich zwangshaft der Versuch ergibt,
-den Sinn geschichtlichen Handelns und Erleidens zu begreifen' (Löwith).

Damit ist aber eine Möglichkeit aufgezeigt, das kontradiktorische Verhältnis Ge-
schichtswissenschaft - systematische Wissenschaften als ein dialektisches zu fassen, da ja
der Erkennende gerade als ,homo historicus' in der Geschichte über sich selbst, seine
Möglichkeiten und Grenzen, über die Einmaligkeit und damit Wichtigkeit seines Han-
delns und Erleidens, seines Seins, und damit über die Möglichkeiten seiner Selbstver-
wirklichung und das für ihn als Menschen konstitutive emanzipatorische Interesse We-
sentliches erfährt, aber indem er dies tut, zugleich auch über den Menschen an sich als
fr>der-Geschichtlichkeit-seienden Erkenntnisse gewinnt, die sowohl generelle wie indi-
viduelle Bedeutung haben.

Von daher ergibt sich als vornehmste Aufgabe der Geschichtswissenschaft, ihre eige-
ne Krise der historischen Isoliertheit zu überwinden, indem sie sich ihrer Theoriebedürf-
ngkeit bewußt werdend (Kossellek) und dem Zwang zur Theorie stellend, neue Bezie-
hungen zu anderen Wissenschaften initiiert. Das heißt: die Geschichtswissenschaft muß
ebenfalls die Frage nach der ,Einheit der Wissenschaft als praktischem Problem' (v. Hen-
TIC;) stellen und den anthropologischen Ansatz wissenschaftstheoretisch wie didaktisch
ausbauen, den Ansatz, mit der Negation des negativen ,mundus et historia homine re-
rnoto' den Menschen wieder das dringend benötigte historische Selbstbewußtsein zu ge-
ben. Indem die Geschichtswissenschaft dies versucht und sowohl die Bewegung wie die
Beweglichkeit, sowohl die konkrete Veränderung wie die Veränderlichkeit (gegen Kos-
sellek) untersucht, vermag sie auch als biophile (im Sinne E. Fromms) Wissenschaft den
Anstoß zur und die Hoffnung auf Zukunftsbewältigung zu geben.

Versteht die Geschichtswissenschaft ihr eigenes Telos so, so ist zu unterstellen, daß
das allgemeine Bewußtsein in der Gesellschaft dies zunehmend als ihr hilfreich und exi-
stentiell-nützlich anerkennt und der Geschichtswissenschaft (deren Beseitigung nur Idi-
oten und Barbaren wollen können) dieses Bemühen mit der Zuerkennung jener Dignität
honoriert, die der kritisch-rationalen Beschäftigung mit einer zentralen Kategorie
rnenschlichen Seins - der Geschichte - eigentlich zukommt.

Erstveröffentlichgung in: Miscellanea Mediaevalia IX, 1974, S. 80 - 84.

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Stauferstudien

,Stauferstudien gehören seit über zwei Jahrzehnten zu den mit besonderer Vorliebe
gewählten wissenschaftlichen Arbeitsfeldern von Odilo Engels', schreiben die Heraus-
geber im Vorwort. Dafür zeugen neben dem vorliegenden Band auch das Urban-Ta-
schenbuch ,Die Staufer' (Urban-Tb., Bd. 154, 51989) und der - leider hier nicht abge-
druckte - Aufsatz ,Der Dom zu Speyer als Spiegel des salischen und staufischen Selbst-
verständnisses' (1980), der sicher in den vorliegenden Band gepaßt hätte. Bedauern mag
man auch, daß dieser gewissermaßen nur das eine ,Standbein' wissenschaftlicher Arbeit
des verdienten Kölner Mediävisten vorstellt, das andere hingegen, nicht minder wichti-
ge und ,exklusivere', nämlich die Arbeiten zur südfranzösischen und iberischen Ge-
schichte, zu Katalonien und Aragon, nicht berücksichtigt1. Das ist deshalb mit Bedauern
anzumerken, weil damit wesentliche Momente des Schaffens von Odilo Engels nicht
sichtbar werden. Doch trifft dieser Vorwurf nicht das vorliegende Buch und die darin
enthaltenen Arbeiten.

Das Buch enthält acht bereits veröffentlichte Aufsätze aus den Jahren 1971 bis 1983,
die in drei Abteilungen gegliedert sind: I. Staufer und Weifen und ihr Jahrhundert; II.
Rheinische Geschichte in der Stauferzeit; III. Staufer in der Geschichtsschreibung.

Der erste Aufsatz, ,Die Zeit der hl. Hildegard' (1979), hat eigentlich mit der hl. Hilde-
gard nur insofern zu tun, als die behandelte Zeit sich ,weitgehend mit der Lebenszeit der
hl. Hildegard (1098 - 1179) deckt.' So entspricht der Titel des Aufsatzes nicht dem weit
größeren der abgehandelten Themen: der Zuweisung des ,Wandels' eher ins 11. oder ins
12. Jahrhundert, des Verhältnisses von Imperium und Sacerdotium und der Frage der In-
vestitur, der Vita apostolica, der ,Ritterorden und der Kreuzzugsbewegung', des Um-
bruchs im Erkenntnis- und Wissensgefüge und des Weges zur neuen Staatlichkeit - alles
Themen von großem Gewicht, zu denen Engels Wesentliches zu sagen hat.

Im Hinblick auf die Datierung der ,Wende des Mittelalters' betont Engels die Wich-
tigkeit des Einschnittes von 1076 im Kampf zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. Er
sieht aber im Verhalten Gregors keine radikale Wende, sondern eine Einbindung in die
Zeitströmung der Reformbewegung. Das ist sicher zutreffend. Doch würde ich die Re-
formbewegung aus der Zeit und in allen Bereichen einerseits, sowie das unleugbare
Machtstreben der Päpste seit Gelasius I. über Nikolaus I. zu Gregor VII. andererseits,
mehr differenzieren. Der sogenannte ,Investiturstreit' war ja nur der Gipfel des Eisber-
ges einer überaus vielschichtigen Entwicklung, zu der die Entsakralisierung des Herr-
schers in allen Ländern (S. 6) gehörte, dem andererseits (S. 6/7) die ,Bemühungen seit
der Mitte des 11. Jahrhunderts, den Zustand der alten, reinen Kirche wiederzugewin-
nen', entsprachen. Ob auf letztere allein der stetige Ausbau des Kirchenrechts zurückzu-
führen sei, ist fraglich. Hier gibt es sicher ältere Wurzeln, etwa bei Hinkmar von Reims u.

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