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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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Habicht, Victor Curt: Neue Ziele der Kunstgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0074
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70 BEMERKUNGEN.

Das innere Erlebnis des Kunstwerks zu erschließen, kann nur am konkreten
Einzelobjekt gelingen. Ich habe schon einmal gefordert: in concreto lucet lax. Letztes
Erlebnis ist Wissen; allerdings ein Wissen, das sich von rationalistischem Erkennen
und Feststellen wie Tag von Nacht unterscheidet. Jedes Kunstwerk — jedes echte —
schließt eine runde Welt in sich, birgt den geheimen Kern eines höheren Erlebnis-
aktes. Es wird also nicht mehr Aufgabe der Kunstgeschichte sein können, große
Säcke zu machen, in die man viel stopfen kann, es wird vielmehr Pflicht werden,
dem Einzelwerk seine ganze Welt — und das heißt mehr als die Formensprache —
restlos abzufragen.

Im vorbildlichen Osten gibt der Meister dem Schüler ein Wort, höchstens einen
Satz, und läßt ihn Wochen, Monate lang über ihn meditieren, bis sich der letzte
Sinn, der überverstandesmäßige, endlich und plötzlich oft erschließt. Das ist wirk-
liches Wissen. So auch wollen Kunstwerke wahrhaft behandelt sein, und dieses
Wissen, von ihnen zu erreichen, bei uns allerdings mit anderen Mitteln und auf anderen
Wegen, wird die Aufgabe der neuen Kunstgeschichte sein. Gleich hier ist einer
möglichen Verwechslung und Mißdeutung zu begegnen. Nicht Phantasie und dichte-
rischen Träumen soll das Wort geredet sein. Zwar weiß ich nicht, ob man es wagen
kann, zu behaupten, daß Goethes Dithyrambus auf das Straßburger Münster Sinn
und Wesen der Gotik im Eigentlichen durch Intuition nicht besser und tiefer
erschlossen habe als alle nachfahrenden, bessergerüsteten, sachlich reineren Behand-
lungen der »Archäologen«. Doch bin ich der Ansicht ganz, daß unerreichbare Gabe
und Verfahren des Ostens und dichterische Phantasie uns nicht taugen. Schon des-
wegen, weil die letztere bei wirklichen heutigen Dichtern keine entscheidende Rolle
mehr spielt. Auf vollste Wahrheit soll der Pfeil gerichtet sein. Wir Europäer werden
dazu noch lange Wissenskram der Wissenschaft — als Brücken aber nur — ge-
brauchen müssen, denn sechshundertjährige Vorherrschaft des Intellektes als des
Weisers und Lenkers zur Wahrheit läßt sich nicht mit einer Geste streichen und
intuitive Kräfte, verschüttet, verachtet und geknebelt, zwingt man nicht von heute
auf morgen. Allein — ohne sie werden wir uns vergeblich bemühen.

Unsere — d. h. eigentlich nicht mehr unsere — Zeit krankt am überheblichen
Intellekt und sie bedarf, im innersten Leben schmachvoll gefesselt durch die Glanz-
leistungen, die vermeintlichen, rationalistischer Methoden, auf welchem Gebiete es
sei, wahrlich keiner neuen Zwangsjacken.

Ich unterlasse es deshalb, methodisch von einer neuen Methode zu reden. Wir
haben uns das wenig Gute, was wir hatten, genug beschwatzt und zerdacht. Zu
sagen war, was als unlebendig erkannt und was als neues Ziel im inneren Sinn mit
leuchtender Klarheit vor uns steht. Die Leistungen der überwundenen Kunstge-
schichtsbetrachtung zu schmälern und herabzusetzen, war kein Gedanke. Sie als un-
zeitgemäß und als zu dem lebendigsten Verlangen unzureichend zu benennen, ist das
gleiche, wie vom überwundenen Impressionismus zu sprechen, wobei die Frage durch-
aus offen bleibt, ob die Qualität des Neuen an die des Alten heranreicht. Mir liegt
an Zielen und Erkenntnissen und dem Leben der sehr geliebten Behandlungsweise
der Kunst; an sonst nichts.

Wenn ich, meinen eigenen Forderungen nach konkreter Darstellung gemäß und
zur einfachen Klarheit, zum Schluß ein Beispiel wähle, so tue ich es der Sache willen
und nicht aus Besserwisserei oder gar aus irgend einem persönlichen Grunde, ja
nicht einmal um zu kritisieren, was als persönliche Leistung bleibt und anerkannt
bleiben soll. Unser Amt zwingt, ein kurzes und kennzeichnendes Beispiel zu nehmen.

K. Gerstenberg ist in seinem Buche über die Sondergotik darauf eingestellt,
uns die Eigenarten der Architektur des späteren Mittelalters deutlich zu machen.
 
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