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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0087
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BESPRECHUNGEN. 83

hindurch ist vom Charakter nicht die Rede. Außer den »Leidenschaften« werden
regelmäßig nur die »Gaben des Geistes« und das »Talent« angeführt. Die von
allen Talenten und Geistesgaben unabhängige entscheidende Einheit des individuellen
Seins, die wir Charakter nennen, kommt bei Piderit nicht vor. Seine Untersuchung
ist nicht auf den konkreten Menschen sondern auf den Menschen überhaupt der
Anthropologie eingestellt. Nicht mit Einheiten, sondern mit absoluten »Eigen-
schaften« rechnet sie. Daraus folgen dann Wiederlegungen der Physiognomik wie
die Bemerkungen gegen Camper: aus der Größe des Gesichtswinkels sei kein Schluß
auf die »Größe der Intelligenz« zu ziehen, weil bei Kindern der Gesichtswinkel be-
deutender ist als bei Erwachsenen und weil das Profil Friedrichs des Großen einen
kleinen Gesichtswinkel aufweist. Es handelt sich aber in der Physiognomik nicht
um Schlüsse auf bestimmte Eigenschaften und Talente, sondern um Schlüsse auf
den Charakter, und da würde die Weisheit der Griechen, das Profil des Kindes,
und die abweichende Physiognomie Friedrichs des Großen gar wohl einen Reim
zulassen. Das Inbeziehungsetzen von Körperteilen und Geistesgaben ist nicht
Physiognomik, so wenig wie das Inbeziehungsetzen von gewissen Schrifteigentüm-
lichkeiten mit Charaktereigenschaften Graphologie. Wenn die Methode der modernen
Graphologie, stets die Totalität des Charakters und des Schriftbildes gegeneinander
abzuwägen, einmal auf die Physiognomik übertragen sein wird, werden die spötti-
schen Blicke auf diese edle Wissenschaft seltener werden.

An einer einzigen Stelle gibt Piderit ein Beispiel für die Art, wie man ent-
sprechend der Graphologie in der Mimik und Physiognomik vom Ganzen auszu-
gehen hätte. Es ist Grundsatz der Graphologie, daß ein Zug erst dann sichere
Aussagekraft erhält, wenn er durch andere bestätigt wird und sich in einen gewissen
Zusammenhang einfügt. Nun deuten nach Piderit horizontale Stirnfalten und hoch-
gezogene Augenbrauen auf Beschaulichkeit. Beide kommen nicht ohne einander
vor. Wo die Stirnfalten also z. B. fehlen, hat die hochgezogene Form der Augen-
brauen keine physiognomische Bedeutung, sondern ist lediglich angeboren (226).
Wäre Piderit stets wie an dieser Stelle vom Komplexen ausgegangen, dann würde
er mehr als eine anatomische Mimik geliefert haben.

Behandelt hat Piderit nur Augen, Mund, Nase, sowie Lachen und Weinen. Die
Ausdrucksfähigkeit des Auges beruht nicht auf »gewissen mysteriösen Erscheinungen
im Augapfel«, sondern auf physikalischen Vorgängen in der Umgebung des Auges.
Es sind neun Arten des Blickes zu unterscheiden: der müde und träge, der lebhafte,
der feste, der sanfte, der umherschweifende, der unstete, der versteckte, der pedan-
tische und der entzückte. Da heißt es z. B.: »Bei dem sanften Blicke ist die Bewe-
gung der Augapfelmuskeln eine ruhige und behagliche. Der Blick haftet ohne An-
strengung und wendet sich ab ohne Eile, er drückt Teilnahme an Gegenständen
oder Vorstellungen aus ohne Leidenschaft. Physiognomisches: der sanfte Blick
deutet auf Sanftmütigkeit« (67). Die Naivität einer Mimik, die fertig zu sein glaubt,
wenn sie eine Erscheinung auf Muskelbewegungen zurückgeführt hat, wird hier völlig
deutlich. — Bei der Mimik des Mundes geht Piderit von dem Zusammenhang zwi-
schen den Geschmacksempfindungen und den Bewegungen der Mundmuskeln aus.
Er unterscheidet hier den bitteren, den süßen, den prüfenden, den verbissenen und
den verachtenden Zug..Die Nase ist nur kurz und ungenügend behandelt, Wangen
und Kinn überhaupt nicht.

Sehr glücklich ist Piderits Analyse der Bedeutung der senkrechten und wag-
rechten Stirnfalten. Senkrechte Falten finden sich vor allem bei Menschen »deren
Gedankentätigkeit eine angestrengte aber unbefriedigte zu sein pflegt«, vorzugsweise
also bei kritischer, analysierender Denktätigkeit (216). Dagegen entspricht den wag-
 
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