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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0104
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100 BESPRECHUNGEN.

verblassen?! Nach dem eben Gesagten beschränkte sich diese Mithilfe ja doch
wesentlich darauf, daß der unpassende Titel, den Baumgarten seinem Buche vor-
gesetzt hatte, aus Bequemlichkeitsgründen immer häufiger und schließlich beinahe
allgemein auf wissenschaftliche Produkte angewendet wurde, deren Plan sich mit
einer Hauptabsicht unter den mancherlei wirr durcheinanderlaufenden Absichten der
»Aesthetica« deckte, und daß so die einheitliche Bezeichnung den Anstoß gab, mehr
und mehr auch die Einheitlichkeit und innere Geschlossenheit des ganzen, in all
jenen Schriften bearbeiteten Gebietes herzustellen! Es tut mir leid, einen bewährten
Fachmann, der sich gerade mit der Entstehungsgeschichte der deutschen Ästhetik
eingehend beschäftigt hat, einen Baumgarten-Spezialisten an so platt zutage liegende,
schlechterdings nicht zu verkennende Dinge erinnern zu müssen, zumal ich überdies
in meinen »Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der Ästhetik« den Sach-
verhalt in Betreff des konfusen Wolffianers hinlänglich geklärt zu haben glaube.

Wenn Bergmann trotzdem übersieht, was mit Händen zu greifen ist, so kann
hieran nur eine bestimmte Tendenz Schuld tragen, wie sie auch wirklich der Schluß
jener die intellektuelle Lage Deutschlands um die Mitte des 18. Jahrhunderts charakte-
risierenden Stelle mit voller Deutlichkeit verrät. »Und in Potsdam«, so fährt näm-
lich der Verfasser nach dem oben zitierten Satze fort, »versammelt sich um Friedrich
die französische Philosophie, als ahnte sie, daß das geistige Leben der Menschheit
von nun an in Deutschland gelebt werde.« Prüfen wir einmal unbefangen, ohne
uns von Chauvinismus und nationaler Einseitigkeit verführen zu lassen, diesen
Satz! Gewiß! Das geistige Leben der Menschheit ist seit Lessing und Kant zu
einem großen Teile in Deutschland gelebt worden. Aber ganz?! Aber ausschließlich?!
Ist es von da an völlig erstorben in den Völkern, welche bisher seine Leitung vor-
zugsweise in Händen gehabt? Ich lasse die Vertreter der exakten Wissenschaften,
die großen Mathematiker und bahnbrechenden Theoretiker der Naturforschung, denen
wir so viel in unserer ganzen Weltanschauung danken, von Lagrange und Carnot,
Gay-Lussac und Laplace, Lavoisier und Dalton bis auf Thomson und Tyndall, Darwin
und Wallace beiseite. Aber war Bentham, der »Gesetzgeber der Welt«, nicht auch
ein führender Geist, obgleich Karl Marx sich erdreistete, ihn »ein Genie in der bürger-
lichen Dummheit« zu schimpfen. Und zählte Comte, dessen Hauptwerk derselbe
Marx »eine Schülerarbeit von bloß lokaler Bedeutung« im Vergleich zu Hegels
»Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« nannte, nicht ebenfalls zu den
führenden Geisternder Menschheit? Folgten ihm nicht Staatsmänner, Gelehrte, große
Schriftsteller, die sich ihrerseits selbst als führende Geister hervorgetan haben? Und
die beiden Mill?! Und Herbert Spencer?! Es ist klar, daß man zu einer Anschauung,
wie sie Bergmann äußert, nur gelangen kann, wenn man alles wertvolle, der ernsten
Beachtung würdige Geistesleben auf die Bestrebungen jener Richtung einschränkt,
deren vielfach abgestufte Repräsentationen man zwar historisch unanfechtbar, allein
gegenüber dem längst fixierten Bedeutungswandel doch mit fraglichem Rechte und
nicht ohne Zweideutigkeit unter dem Namen »Idealismus« zusammenzufassen pflegt
und deren auffälligstes Merkmal, abgesehen von der Grundansicht einer Priorität
des Geistigen vor der Natur, wohl darin besteht, daß sie eine kritische Zergliederung
und genetische Erklärung gewisser Begriffe prinzipiell von der Hand weisen, weil
sie die in den Begriffen ausgedrückten Verhältnisse als letzte, unableitbare Tatsachen
betrachtet wissen wollen. Mit dem, was im gewöhnlichen Leben Idealismus heißt,
mit dem Idealismus der opferbereiten, energisch auf Verwirklichung der sittlichen
Ideale drängenden Gesinnung hat diese philosophische Richtung selbstverständlich
nicht das mindeste zu schaffen, wohl aber bekundet sie stets eine gewisse, bald
größere, bald geringere Verwandtschaft mit dem Spiritualismus, mit Anschauungen also,
 
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