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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0105
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BESPRECHUNGEN. ]Q\

die sich sowohl durch Übertragung des für die äußere Welt gültigen Substanz-
begriffes auf die psychische Innerlichkeit wie durch ein unklares Hineindichten des
Menschen ins Weltall, eine phantastische Verschmelzung von Eigenschaften des
höchst entwickelten Bewußtseins mit dem tiefsten Weltgrunde auszeichnen. Sieht
man nun Regungen echten geistigen Lebens nur in solchem mehr oder weniger
mystisch gearteten Idealismus, dann mag man ja, da es an Wirrköpfen und Phantasten
auch in deutschen Landen nicht gefehlt hat, eine Behauptung gleich der des Ver-
fassers wagen und in der heute beliebten Art den »Idealismus« zum Wesen des
»deutschen Geistes« stempeln: St. Martin und de Maistre, Bonald und Robertson,
Cousin und Rosmini mit all den übrigen Spiritualisten Frankreichs, Englands und
Italiens werden nicht aus den Gräbern aufstehen, um ihren Anteil an diesem geistigen
Leben der Menschheit zu reklamieren. Ob man aber Deutschland eine besondere
Ehre damit erweist, daß man es nicht bloß als die alleinige Heimat des in den
Philosophenmantel sich hüllenden Mystizismus betrachtet, sondern auch alles, was
außerhalb der groben wie der höchst verfeinerten Gespensterlehre von philosophischen
Ideen auf deutschem Boden emporgeblüht ist, völlig ignorieren zu können meint,
als hätte es nicht die geringste Bedeutung, sonach den Anspruch auf scharfes, ver-
standesmäßiges, superstitionsloses Denken restlos den anderen Völkern überläßt,
muß wohl dahingestellt bleiben. Sicher jedoch ist, daß man die in Rede stehende
Auffassung vom »deutschen Geiste« nur bei Außerachtlassung wichtiger philosophie-
geschichtlicher Tatsachen aufrechterhalten kann, und es setzt daher in Erstaunen,
daß sie Bergmann nichtsdestoweniger, der Tagesmode huldigend, teilt, wie ins-
besondere aus den Sätzen, mit welchen sein Schriftchen schließt, unzweifelhaft
hervorgeht. Er weist daselbst auf die Tragweite und Fruchtbarkeit der »Winckel-
mannschen »Stiftung« hin. »Sie reicht«, schreibt er wörtlich, »bis zur Romantik, bis
zu Schopenhauer, einem der konsequentesten Winckelmannianer, die je gelebt. Denn
hier wird deutlich, was sich auch an Hölderlin und anderswo erweisen ließe: der
religiöse Grundzug des deutschen Hellenismus, vom Mystiker Winckelmann vererbt
und im Einvernehmen stehend mit der großen metaphysisch-religiösen Tradition der
deutschen Geistesgeschichte überhaupt.«

Das ist nun die dritte Stelle, die zu beanstanden ist, und wie man sieht, wird
durch sie meine Interpretation der zweiten aufs schönste bestätigt; die Annahme von
den Bedingungen, unter welchen allein der Verfasser den befremdlichen Ausspruch,
daß seit 1749 das geistige Leben »der Menschheit« in Deutschland gelebt wird, tun
konnte, von den Vorstellungen, die solch rücksichtslosem Aburteilen über alles sonst
in der Welt Geleistete zugrunde liegen mußten, trifft wirklich zu: wie so vielen
Heutigen ist auch dem Leipziger Ästhetiker das höhere Geistesleben Mystizismus
und der Mystizismus ein deutsches Privilegium. Da sich aber in den angeführten
Schlußsätzen neben dieser allgemeinen Überzeugung noch ganz besondere, Schopen-
hauer betreffende Ansichten bergen und eigentlich drei Behauptungen vorliegen,
erstens, daß Schopenhauer ein richtiger Deutscher, zweitens, daß er ein religiöser
Mystiker, und drittens endlich, daß er gerade als solcher ein typischer Repräsentant
deutscher Denkweise war, so erscheint auch eine Prüfung der Sätze nach drei Richtungen
geboten, wobei sich alsbald herausstellt, daß zwei der so verbundenen Gedanken
innerhalb gewisser Grenzen getrost zugegeben werden können, wogegen der dritte,
der die beiden anderen erst zur Einheit zusammenschließt, eben die allgemeine Vor-
stellung von der Mentalität des Deutschen, eine nachdrückliche Zurückweisung
fordert. Es läßt sich nicht leugnen: der große Pessimist hängt trotz seiner leiden-
schaftlichen Ausfälle auf die Nation, die ihn so lange verkannt und unbeachtet ge-
lassen hatte, mit der klassischen deutschen Kultur innigst zusammen und vielleicht
 
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