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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0110
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106 BESPRECHUNGEN.

anderen zu übermitteln. Bisweilen aber fügt es das Schicksal, daß zwei verwandte
Geister nicht erst in der späteren Darstellung eines Dritten, sondern in der Wirk-
lichkeit der lebendigen Gegenwart zusammentreffen. Dann ist es, als ob eine Art
Fluidum von dem einen auf den anderen überginge, und in wechselseitiger Erhellung
offenbaren sie ihren tiefen Wesenszusammenhang. Dieser Wesenszusammenhang ist
in ganz seltenen Fällen nicht nur durch die Gemeinsamkeit des Zeitwollens bedingt,
sondern er ist mehr noch ein außerzeitlicher, metaphysischer. Solchen Zusammen-
hanges wird man inne, wenn Jean Paul über Beethoven oder wenn Kleist über
Kaspar David Friedrich spricht. Man sieht ihn auch in scheinbar negativen Fällen,
wie wenn Edvard Munch Strindberg porträtiert, der Künstler, der so ganz von der
Welt losgelöst und in seiner visionären Innenwelt verfangen ist, daß er sein eigenes
Antlitz nicht mehr sieht, daß es ihm zur typischen Maske erstarren muß, so wie das
Antlitz jenes Dichters, dessen geistige Welt die der seinen am meisten verwandte ist.

Die vorliegende Veröffentlichung von zehn Zeichnungen Kokoschkas in Faksi-
mile mit einem Geleitwort Max Dvofäks ist ein sichtb,ares Zeugnis solchen Zu-
sammentreffens zweier tiefverwandter Geister. Der Gelehrte, der erst in der letzten
Zeit seines Lebens mit dem Künstler in näheren persönlichen Verkehr trat, hat mit
der ganzen Tiefe seines alles geistig Bedeutende durchdringenden und erfassenden
Blicks die Größe des jungen Meisters, der bedeutendsten künstlerischen Erschei-
nung der Gegenwart neben Munch, erfaßt und das Erlebnis seiner Kunst der
eigenen unendlich reichen inneren Erlebniswelt eingefügt. Dvorak, dessen geistigem
Auge sich selbst die dunkelsten Räume der geschichtlichen Welt öffneten und er-
hellten, hat auch die richtige Erkenntnis für die Bedeutung der Kunst Oskar Kokosch-
kas gehabt. Er war ja kein engherzig in die Beschränkung eines begrenzten For-.
schungsgebietes Eingeschlossener wie so viele seiner Fachgenossen, sondern die
Weite und Tiefe der gesamten Geisteswelt der Vergangenheit sowohl wie der Gegen-
wart stand der reinen und rückhaltlosen Erlebniskraft seiner Seele offen. Das
Erlebnis des einen Künstlers führte ihn jedoch zu einem noch größeren, umfassenden,
überpersönlichen: dem Erlebnis einer gewaltigen Wandlung, die sich wie im ge-
samten Geistesleben der Gegenwart so auch in der bildenden Kunst vollzieht. Wieder-
holt hat Dvorak in seinen Vorlesungen die Bedeutung dieses Schauspiels betont:
die Abkehr von der bedingungslosen Vorherrschaft des naturalistischen Prinzips, die
Rückkehr zur ewigen Heimat, der Welt der überpersönlichen und überzeitlichen Ideen,
die in dem kleinen, aber doch umfassenden Spiegel der menschlichen Seele einge-
fangen ist. Diese Heimkehr des Menschen zur Seele ist das große beglückende Er-
eignis, von dem die prophetischen Worte, die Dvoifäk den Zeichnungen Kokoschkas
voranschickte, handeln.

»Variationen über ein Thema« nennt Kokoschka seine Zeichnungen, wie die
Klassiker der deutschen Musik, wenn sie irgendeine kleine Melodie als Anlaß zur
Entfaltung eines unerschöpflichen Reichtums eigener Gedanken und innerer Gesichte
erwählten. Dieser Gleichklang des Titels ist kein zufälliger. Der Zusammenhang mit
der Erlebniswelt der Musik ist inniger als bei anderen Werken der bildenden Kunst
von heute. Auf einigen der Blätter finden wir, von der Hand des Künstlers ge-
schrieben, die Anmerkung: »Studie zum Konzert«. Damit ist sowohl ihr äußerer wie
ihr innerer Zusammenhang gegeben. Der Phantasie des Künstlers schwebte beim
Schaffen eine große Komposition vor, »Das Konzert«; diese Zeichnungen sind gleich-
sam Vorstudien dazu. Das ist aber nicht der richtige Ausdruck, denn sie sind doch
wieder selbständige Kunstwerke, die unabhängig vom Hinblick auf ein noch zu
schaffendes Werk bestehen können und sollen. Sie sind so etwas ganz anderes als
der herkömmliche Begriff der »Vorstudie«. Sie sind innerlich zu einer geistigen Ein-
 
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