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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0111
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BESPRECHUNGEN. JQ7

heit untereinander verbunden, nicht nur äußerlich durch den Hinblick auf ein bloß
der Phantasie des Schöpfers bewußtes Ziel. Der Künstler hat die Wirkungen ver-
schiedener Musikwerke auf ein und dieselbe Persönlichkeit in ihnen geschildert. So
ward diese Persönlichkeit zum »Thema«, zum zufälligen Anlaß der Entwicklung einer
Reihe großer Gedanken, die sich in dem stillen, neutralen Spiegel ihrer Seele ab-
zeichnen gleich den Schattengestalten der Platonischen Höhle. Aber auch diese Ge-
danken, d. h. die Werke der Musiker, sind keine außerhalb der Phantasie des Schöp-
fers stehenden Gegebenheiten, sondern es ist ihr Widerhall in der Seele des ebenso
wie sein Modell die Klänge in sich aufnehmenden Künstlers, was in dieser eigene
schöpferische Kräfte löste und so der Anlaß zu Gebilden einer anderen geistigen
Kategorie wurde, deren Verkörperung wir in den Zeichnungen erblicken.

Wie sich selbst in der Reihe dieser eng zusammengehörigen und innerhalb einer
kurzen Zeitspanne entstandenen Werke die Entwicklung des Stiles Kokoschkas ab-
zeichnet, sein Fortschreiten von der »analytisch scharf und leidenschaftlich bewegten«
zur »ruhigen und synthetisch großen« Zeichnung, hat Dvorak in tief sinnvoller Weise
interpretiert. Wenn es gestattet ist, etwas hinzuzufügen, so sei es nur etwas, was
dem Schreiber dieser Zeilen zufällig bekannt ist und hier vermerkt sei, weil es immer-
hin einmal zum Verständnis des Künstlers und des geistigen Umkreises, aus dem
heraus er diese Blätter schuf, dienen kann: die Musikwerke, unter deren Klängen sie
entstanden. Nicht das Modell des Künstlers, wohl aber die jeweilige Vision seiner
schöpferischen Phantasie hat sich unter dem Eindruck der Musikwerke verändert,
so daß sie in seinem Schaffen eine mindestens ebenso große Rolle gespielt haben
müssen wie das Modell.

Das erste Blatt mit den weichen, groß gewellten Barockformen entstand unter
den Klängen des Stradella zugeschriebenen »Gebets«, eines anonymen italienischen
Werkes des Settecento. Blatt II zeigt in großen, sicher und zügig hingewischten
Kohlestrichen eine still vor sich hinstarrende Gestalt, deren träumerischer Blick ins
Leere geht; slowakische Volkslieder begleiteten ihre Entstehung. Das so klar und
durchsichtig, »tektonischer« als die übrigen gezeichnete Blatt III schloß sich an die
»Arie des Orest« aus Glucks »Iphigenie« an, während das gespannte Lauschen des
Kopfes auf Blatt IV einem Werke Debussys galt. Blatt VI ist mit der Arie -»Lasciate
tne morir« aus Monteverdis »Orfeo« verknüpft. Wenn aber überhaupt von irgend-
einem konkreten geistigen Zusammenhang dieser Blätter mit Musikwerken gesprochen
weiden kann, so gilt das unbedingt von den Blättern V und X der Reihe, die die
monumentalsten sind und in der Folge der Entstehung die letzten, reifsten. Sie sind
nicht nur kompositioneil überaus verwandt, sondern auch durch ihren geistigen In-
halt. Ganz groß und klassizistisch monumental sind da die Formen geworden. Aber
dieser Klassizismus ist nicht Selbstzweck, sondern dient nur zum Ausdruck der rest-
losen Vergeistigung des Antlitzes, das namentlich auf dem letzten Blatt ganz körper-
los und schimmernd, wie von innerem Lichte durchleuchtet und erdentrückt geworden
ist. Niemals noch ist das innere Lauschen eines Menschen so dargestellt worden;
es ist, als ob die Klänge in der Frau eigener Seele ertönten und sie still, verhalten
und ruhig nach außen, auf sie lauschte. Es ist kein Zufall, daß gerade diese beiden
Blätter unter dem Eindruck eines Spätwerkes Beethovens, der Klaviersonate op. 110,
entstanden. Das Problem des Klassizismus des späten Beethoven ist ein verwandtes:
monumentale Geschlossenheit, ruhige Wucht der Formen, Harmonien, die in weit
und groß gebauten, gleichsam mächtige Raumweiten erfüllenden und umspannenden
Akkorden gefaßt sind; eine Art bewußten Einfachwerdens, Klassizisierens (fast könnte
man im Hinblick auf den Einfluß Händeis sagen: Archaisierens). Über diesem Unter-
bau aber schwebt dann oft ein Thema von kindlicher Einfachheit, liedhaft, erdent-
 
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