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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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Schmarsow, August: Die reine Form in der Ornamentik aller Künste, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0134
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130 AUGUST SCHMARSOW.

wissenhaft vorzulegen, daß alles berücksichtigt wird, was auch die
Zeichnung festzuhalten trachtet. Die Angabe ihrer Abweichungen
schließt sich dann dem Vergleiche geflissentlich an und führt zum Ver-
ständnis ihrer Gründe.

Die erste Zeichnung, die wir für unseren Zweck herausgreifen
ist zu Purgatorio IX entworfen und sehr merkwürdig dadurch, daß
der Maler die heilige Lucia, die wirkliche Helferin, die den ganz
erschöpften Dante schlafend auf die obere Stufe dicht vor den Ein-
gang des Läuterungsweges bringt, ganz vergessen hat und an ihre
Stelle den Adler des Ganymed einsetzt, von dem der Dichter nur
während seiner Entrückung geträumt zu haben erzählt. Unten links
sehen wir Virgil noch bei den nackten Fürsten und Sordello sitzen,
während sein Gefährte »dem Schlaf erlegen ins Gras gesunken« vor
ihnen am Boden liegt; darüber wird dieser schon vom Adler gepackt, als
willenlose Last emporgetragen, und auch Virgil entschwebt am aus-
gespannten Flügel des Luftbewohners mit der Leichtigkeit der Geister.
Auf der oberen Stufe steht links der Adler wiederum, mit erhobenem
Flügelpaar in Profil gesehen, doch fast wie ein Wappentier, als Wächter
neben dem Körper des noch immer Schlafenden. Das ist ein Irrtum,
der wohl die bestrickende Wirkung des antiken Göttermythus auf die
Phantasie des Renaissancekünstlers bezeugt, uns aber nicht weiter be-
hindern soll, die folgende Hauptszene vor dem Tor des eigentlichen
Purgatoriums davon frei zu halten, wie es auch in unserer Abbildung
geschieht.

Diese Gestalten reihe bis zum Engel an der Pforte bietet ein höchst
charakteristisches Beispiel für die kontinuierliche Darstellungsweise des
Illustrators an der Hand seines dichterischen Vorbilds. Der wach-
gerufene Dante erscheint hier dreimal, sein leitender Berater zweimal
im Verlauf von links nach rechts. Zuerst begegnen dem ablesenden
Auge die beiden Weggenossen, wie sie eilenden Schrittes — eben auf
Lucias Mahnung — dem Ziel zustreben, und Virgil geht in lebhafter
Bewegung, mit auffordernd erhobener Rechten und rückwärts gewandtem
Blick, seinem gebeugten Schützling voran, der noch mit Müdigkeit zu
kämpfen hat. Dann steigert sich's zu einer dreifigurigen Gruppe, in
der Dante einmal noch eifrig dem Führer nachläuft, weiterhin aber, der
Weisung gehorsam vorangeeilt, niederkniet, um sich demütig vor dem
Engel zu beugen. Und hier empfängt er von der Spitze des blanken
Schwertes in der Hand des himmlischen Pförtners die sieben P auf
seiner Stirne, die nur eingeritzt werden, um später auf dem Bußgang
eins nach dem anderen wieder zu verlöschen. Es ist wie eine aufgelöste
> Anbetung der Könige« vor Maria an der Tür der Zufluchtstatt, durchaus
transitorisch gedacht, wie die Sprachkunst sie darbot. Der Zeichner
 
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