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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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Heinrich, Fritz: Musikalische Elementargefühle und harmonische Gegenständlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0175
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MUSIKAL. ELEMENTARGEFÜHLE U. HARMON. GEGENSTÄNDLICHKEIT. 171

Anlage und der musikalischen Ausbildung, die nun einmal für ein
aktives Hören nicht entbehrt werden können. Heute steht es noch so,
daß die meisten von denen, die dies aktive Hören kennen, ihr musi-
kalisches Genießen am Studium der Epoche Bach-Brahms gewonnen
haben. Aber wer vermöchte zu sagen, wie vielen die Werke jener Zeit
noch mehr als bloß historische Werte, oder wie vielen anderen sie nur
Anlässe sind, um ihr Gefühls- und Phantasieleben in eine angenehme
Erregung zu versetzen?

Es wurde hier von der harmonischen Gegenständlichkeit gesprochen,
wie sie in den Meisterwerken der Epoche Bach-Brahms vorliegt. Sie
beruht auf der tonalen Funktion der Harmonie, auf der Tonalität; mit
anderen Worten, sie ist gebunden an die Kadenz als konstruktives
Prinzip. Mit dieser ist das Tonartbewußtsein oder Tonartgefühl gegeben.
Der Grundakkord der Tonart, der die Basis der Kadenz ist, besteht
indessen lediglich aus der Kombination des Oktav-, Quinten- und Terz-
verhältnisses, beruht also auf Tonbeziehungen, welche, wie wir dar-
legten, zwar das Ergebnis einer durch den menschlichen Gehörapparat
vorgenommenen Auswahl sind, aber ein Ergebnis, das nur möglich war
auf Grund einer physikalischen außermenschlichen Gegebenheit, näm-
lich der Tonschwingungsverhältnisse und der harmonischen Obertöne.
Von dieser Gegebenheit ist unser Ohr gerade so abhängig wie unser
Auge von den Gestalten und Farben der Dinge der Umwelt. Da also
die Elemente, aus denen der Grundakkord einer Tonart besteht, und
ohne die eine Tonart nicht herstellbar und nicht denkbar ist, Folgen
eines physikalischen Gesetzes sind, so haben wir auch kein Recht, die
Tonarten schlechthin menschliche Schöpfungen zu nennen und mit
ihnen nach Belieben zu verfahren wie mit Selbstgemachtem. Kadenz
und Tonalität gehen auf physikalische Urphänomene zurück, denen der
Mensch sich zu beugen hat, auch wenn er sich ihrer Verwertung
rühmen darf. Durch diese urphänomenale Bedingtheit muß es erklärt
werden, daß beide eine unerläßliche musik-ästhetische Forderung er-
füllen. Das Gefühl ästhetisch-harmonischer Befriedigung, das diese Er-
füllung gewährt, also ganz allgemein die ästhetische Befriedigung durch
harmonische Gegenständlichkeit, ist unter Aufgabe der Tonalität nicht
erreichbar und im atonalen Verhalten durch nichts ersetzbar. Es ist
kein zufälliges, sondern ein normatives Gefühl. Der Atonalität fehlt
die Bezogenheit auf die physikalischakustischen Urphänomene, aus
denen die harmonische Gegenständlichkeit als Selbstwert hervorgeht.
Deshalb ist es nicht möglich, mit atonalem Verfahren einen musika-
lischen Sinnzusammenhang herzustellen, wenn man unter einem solchen
etwas Wertbezogenes versteht. Einen Funktionszusammenhang liefern
auch Tonsätze, die keine Tonalität kennen, aber keinen sinnvollen. Ato-
 
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