Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

DOI article:
Bukofzer, Max: Vom Wesen des inneren Mitsingens
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0178
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Bemerkungen.

Vom Wesen des inneren Mitsingens.

Von

Max Bukofzer.

Unabhängig von Groos bin ich zu dem Ergebnisse gelangt, daß unser Stimm-
organ beim ästhetischen Hören in gewisser Art eine nachschaffende Rolle spielt.
Die Begründung meiner Resultate kann hier nicht wiederholt oder auch nur refe-
riert werden, weil dies ins Weite führen würde, sondern müßte in meinen Arbeiten ')
nachgelesen werden.

Ausgangspunkt der Untersuchungen war das »Transpositionsphänomen«. So
nannte ich die ganz bekannte, aber auffallende Erscheinung, daß gewöhnlich ein
dem Stimmorgane des Hörers durchaus bequem liegender vereinzelter Ton, z. B.
c1, nicht richtig, sondern (auch gerade von musikalischen Menschen) in der Oktave
nachgesungen wird, sofern er vom anderen Geschlechte vorgesungen war (E. 17ff.)2).
Es zeigte sich, daß jenes Nachschaffen des vom Ohre lediglich in seinen klang-
lichen Eigenschaften aufgenommenen Tones nur seinen Einwirkungen auf das Ge-
müt gelten oder innewohnen kann (E. 15, 22, 23, 263) bis 28, 39, 40; J. 195, 209,
215 bis 217, 221). Ich hatte Anlaß, diese Funktion und ihren Zweck »endotaktile
Gehörsinterpretation« zu nennen (E. 30. 31), weil innere Tastempfindungen ihr Wesen
bedingen. Als unannehmbar mußte im Anschluß an Stumpf, Köhler, Alt u. a. an-
gesehen werden, daß Spannungen und Spannungsempfindungen im Stimmorgane
beim aufmerksamen Hören, daß dieses »Ideomotorische«, etwa das Erkennen von
Tonhöhe und Klangfarbe fördern oder gar erst ermöglichen könnten, wie Stricker u. a.
geglaubt hatten (E. 22, 23, 33). Vielmehr mußte die Zuständigkeit hierfür aus-
schließlich dem für Tonempfindungen besonders begabten Ohre vorbehalten werden.

Die endotaktile Gehörsinterpretation bedarf, obgleich sie einzig und allein auf
den ästhetischen, den musikalischen Inhalt gerichtet ist, um überhaupt einsetzen zu

') »Vom Erleben des Gesangstones« und »Das Ideomotorische in unserem Stimm-
organe und die Musik«. — In vorliegender Schrift sind diese beiden Abhandlungen
kurz mit E und J bezeichnet. — E erschien in den »Beiträgen zur Anat., Physiol.
usw., des Ohres usw.; herausgegeben von Passow und Schaefer« Bd. XV, Berlin,
Karger 1920; J. ebendort Bd. XVII, 1921.

2) Das Wort »Transposition«, hier im allgemeinen Sinne von »Übertragung« ge-
braucht, kann zu Verwechslungen mit seiner engeren, musikalischen Bedeutung Ȇber-
tragung in eine andere Tonart« nicht Anlaß geben, weil der vereinzelte Ton des
Transpositionsphänomens keiner bestimmten Tonart angehört; obenein aber werden
die nachfolgenden Ausführungen zeigen, daß selbst eine solche Verwechslung nichts
Unzutreffendes mit sich führen müßte. Trotzdem werde ich den genannten Vor-
gang nunmehr »Phänomen der Oktavenirrung« nennen.

3) E 26 Zeile 9 von unten ist, wie schon aus dem Zusammenhange ersichtlich,
anstatt »Hören« zu lesen: »Erleben des Inhaltes«.


 
Annotationen