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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0304
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300 BESPRECHUNGEN.

Verhältnisse mit, unter denen V. Basch arbeitet; dazu kommt eine andere Einstellung
gegenüber der dramatischen Literatur. Für Lessing steht die Antike hochgeehrt, aber
sogut wie abgeschlossen da, ein Gegenstand ehrfürchtiger Bewunderung philolo-
gisch geschulter Leser, unerreichbar der zeitgenössischen Bühne; er bekämpft den
französischen Einfluß und lehnt sich an das englische Drama an, um dem deutschen
Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Auch seine rationale Analyse des Dramas nach
Stoff und Form steht unter dem Einfluß eines Rasseideals, das dem Kritiker wieder-
um zum persönlichen Erlebnis geworden ist. Nichts von dieser Kämpferstellung bei
V. Basch. Er lebt in glücklicheren Zeiten, welche die Werke eines Sophokles und
Euripides wie die eines Shakespeare unmittelbar neben den französischen Dichtungen
derzeit auf die Bühne bringen können; ja, der künstlerische Eindruck, der von jenen
ausgeht, scheint, nach Baschs Kritik zu urteilen, bei dem wertvolleren Teil des
Publikums tiefer zu gehen als derjenige der zeitgenössischen Dramatik. Das ent-
spricht freilich nur dem künstlerischen Wertverhältnis, das sich nun auch in dem
Ausmaß und dem Ernst der Besprechung widerspiegelt.

Darum beruht der bleibende Wert des vorliegenden Bandes nicht eigentlich in
dem Abschnitt «Les contempomins« und noch weniger in den folgenden: »Le theätre
de la gucrre«, »Les Revues« usw. Was V. Basch über das symbolistische Drama sagt
(S. 83 ff. und 172 ff.), über das Qui proquo in der Komödie (S. 137 ff.) oder über
das »suprarealistische (kubistische) Drama« (freilich im Hinblick auf ein äußerst
schwaches Stück von G. Apollinaire), das geht nicht sonderlich in die Tiefe und
gibt nichts wesentlich Neues, doch seien die Bemerkungen über sukzessive und
koexistierende Kunstwirkungen (S. 176) hervorgehoben. Sehr wenig Gewinn konnte
dem geistreichen Kritiker die Vertiefung in das Kriegsdrama seinerzeit bieten, das
sich in Frankreich durchschnittlich noch auf erheblich niederem Boden bewegt zu
haben scheint als bei uns. Ganz richtig betont V. Basch wiederholt, daß die gewal-
tigen Ereignisse derzeit überhaupt der unmittelbaren künstlerischen Verdichtung
auf dramatischem Wege widerstreben. Immerhin haben doch bei uns Dramatiker,
wie G. Kaiser (Die Bürger von Calais), Goering (Seeschlacht) und Unruh (Ein
Geschlecht) noch während der Kriegszeit so weit Distanz von den Dingen gewonnen,
daß sie zu höchst beachtenswerten Vorläufern einer künftigen Weltkriegstragödie
gelangten. Was V. Basch in den kriegerischen Erzeugnissen der dramatischen Kunst
seines Volkes am besten zu rühmen weiß, »Les Butors et la Finette« von Fr. Porch e,
scheint uns wirklich nicht mehr als eine gut gemeinte »heroische Kantate«, die im
wesentlichen mit kalten und bisweilen (etwa in der Darstellung des »verräterischen«
Buc) geradezu kindlichen Allegorien arbeitet. Beachtenswerter scheint das Drama
»VAmazone« von H. Bataille, das an der Hand einer Liebesgeschichte die alles
überwindende Macht des nationalen Gedankens feiert. Überhaupt kann sich Frank-
reich rühmen, wenn wir nach der Darstellung unseres Führers einen Schluß ex
silentio ziehen dürfen, daß keiner seiner ernst zu nehmenden Dramatiker dem
eigenen Volk und Heere in den Rücken gefallen ist! An blutrünstigem Kriegskitsch
hat es selbstverständlich nicht gefehlt, doch geht V. Basch, der nicht umsonst an
der Spitze der »Liga für Menschenrechte« steht, darüber im allgemeinen stillschwei-
gend hinweg, auch hält sich seine eigene Darstellung von jeder Anpöbelung des
besiegten Gegners fern, was man leider nicht von jeder Stimme behaupten kann,
die aus wissenschaftlichen Kreisen westlich des Rheins zu uns herüberklingt. Aber
auch in seiner Darstellung verspürt man den Herzschlag des echten Patrioten, an-
gesichts des Massenmordes der französischen Jugend, der den großstädtischen
Theaterpöbel völlig kalt läßt. Käme Voltaires ehrlicher Hurone heute nach Paris, so
klagt V. Basch (S. 99 ff.), und sollte er den Zustand des Landes nach seinen Theater-
 
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