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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 17.1924

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Leich, Walther: Heines Kunstphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3619#0419
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BEMERKUNGEN. 415.

nach dem Absoluten hervorruft, als sei es ein kolossaler Fiebertraum, der Fiebertraum
eines wahnsinnigen Gottes, scharf bestimmt und die formalen Eigentümlichkeiten
dieser Kunst aus der geistigen Einstellung des Mittelalters abgeleitet hat. Wie er
somit hauptsächliche Gedanken von Worringers »Formprobleme der Gotik« bereits
ausgesprochen hat, ohne daß dieser es ahnte, so zeigt sich die Geistesverwandtschaft
beider fernerhin, wenn man Heines bereits erörterte Stellung zu den romantischen
Künstlern mit der Worringers zu dem Expressionismus unserer Zeit vergleicht. Auch
Worringer kommt zu der Erkenntnis, daß der metaphysische Expressionismus der
Vergangenheit als moderne Wiederholung doch nur innerhalb des Ateliers vor sich
geht. »Gewiß, es hat eine geistige Kunst gegeben, der Irrtum war nur, es könnte
auch heute eine geben«. Er bezweifelt, »ob wir überhaupt noch eine bildende, zeuge-
rische Kunst im tieferen Sinne haben«, während für die anderen Künste der Fall
wesentlich anders liegt. »Sie haben soziologisch noch eine viel unmittelbarere Klang-
farbe und das Publikum in Konzerten und Theatern wirkt... doch irgendwie
glaubwürdiger und wahrhaftiger als das Publikum, das in modernen Kunstausstel-
lungen herumwandelt«').

Wenn Heine von dem Spiritualismus des Mittelalters, einem seiner Lieblings-
gedanken, redet, weist er mit Vorliebe auch auf die Kehrseite davon, auf die klas-
sische Kunst hin. Hier ist nichts zu spüren von Darstellung und Andeutung des.
Unendlichen und spiritualistischer Beziehungen, sie hat nur das Endliche darzustellen,
und ihre Gestalten konnten identisch sein mit der Idee des Künstlers. Der Odysseus
Homers ist nur der kühne Seefahrer, an den sich keine esoterische Bedeutung knüpft,
der Bacchus im Louvre ist nichts anderes als der anmutige Sohn der Semele mit der
kühnen Wehmut in den Augen und der heiligen Wollust in den gewölbt weichen
Lippen2). Der entscheidende Geisteszug in den Menschen des Altertums ist der Sen-
sualismus, der »die natürlichen Rechte der Materie gegen die Usurpationen des Geistes
zu vindizieren sucht«3). Sie »lebten meistens in äußeren Anschauungen und ihre Poesie
hat vorzugsweise das Äußere, das Objektive zum Zweck und zugleich zum Mittel
der Verherrlichung«4). In der klassischen Kunst besteht eine sonnenklare Harmonie
zwischen Form und Idee, in der mittelalterlichen überragt die Idee die gegebene
Form, und diese strebt verzweiflungsvoll jene zu erreichen3).

Schließlich hat Heine auch gefühlt, daß der entwickelte Gegensatz von Gotik
und Klassik kein zeitgebundener, sondern ein ganz allgemeiner ist. In seiner Schrift
über Ludwig Börne sagt er einmal: »Juden und Christen sind für mich ganz sinn-
verwandte Worte im Gegensatz zu Hellenen, mit welchem Namen ich ebenfalls kein
bestimmtes Volk, sondern eine sowohl angeborne als angebildete Geistesrichtung
und Anschauungsweise bezeichne. In dieser Beziehung möchte ich sagen: alle Men-
schen sind entweder Juden oder Hellenen, Menschen mit asketischen, bildfeind-
lichen, vergeistigungssüchtigen Trieben, oder Menschen von lebensheiterem, entfal-
tungsstolzem und realistischem Wesen«. Mit dieser Zweiteilung steht Heine in der
Reihe der Männer, die die scheinbar bunte Fülle der Weltanschauungen mit ihren
mannigfachen Auswirkungeu zu entwirren suchten und aus ihnen Typen heraus-
schälten, wie Schiller, die beiden Schlegel, Hegel, Dilthey. Von Heine ist nur ein
kleiner Schritt zu Nohls Buch »Stil und Weltanschauung«.

i) Worringer, »Künstlerische Zeitfragen« 1921, S. 11, 17,24

2) Die romantische Schule.

3) Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland.
*) Die Romantik 1820.
 
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