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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Lipps, Theodor: Zur "ästhetischen Mechanik"
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0012

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8 THEODOR LIPPS.

nach nichts anderes als meine, aus der Erfahrung stammenden Ten-
denzen, Dinge in meinen Gedanken sich so oder so bewegen zu
lassen, beziehungsweise die durch den Augenschein unmittelbar ge-
gebene Nötigung, solchen Tendenzen zum Trotze eine Bewegung sich
vollziehen oder ein Ding in Ruhe verharren zu lassen. Die Wechsel-
wirkung der Tätigkeiten und Tendenzen und das Gleichgewicht der-
selben ist die Wechselwirkung und das Gleichgewicht solcher in der
Betrachtung des Daseins der Dinge und des Geschehens an den Dingen
in mir entstandenen Tendenzen und Nötigungen. Die »Kräfte« sind
die Intensitätsgrade, welche diese Tendenzen und Nötigungen in
ihrem Gegeneinanderwirken gewinnen.

Vermöge der Einfühlung aber wird dies alles zum Eigentum der
Dinge selbst. Dabei ist die Einfühlung nicht ein besonderer Akt,
sondern sie ist ohne weiteres damit gegeben, daß diese Tätigkeiten
und Tendenzen, dies Gegeneinanderwirken und dies Gleichgewicht und
die Intensität derselben, durch die Dinge selbst und die Weise, wie
sie ohne mein Zutun sich darstellen, ins Dasein gerufen sind, also in
ihnen »liegen« oder an sie für mein Bewußtsein gebunden sind.

Gehen wir aber in der Betrachtung der Naturkräfte noch einen Schritt
weiter. Wir reden auch von einer Tendenz oder Kraft der Beharrung
in der Natur: Jedes Ding strebt da zu verharren, wo es ist. Und
jedes in Bewegung befindliche Ding strebt in der Richtung und mit
der Geschwindigkeit weiter zu gehen, die es einmal hat. Nun, auch
diese Tendenz der Beharrung ist meine Tendenz. Es ist die Tendenz,
das, was irgend wo ist, in meinen Gedanken da zu belassen, wo es
ist, beziehungsweise die Tendenz, was in bestimmter Richtung und
mit bestimmter Geschwindigkeit sich bewegt, in Gedanken so weiter
sich bewegen zu lassen. Aber auch diese Denktendenz ist unmittelbar
da oder wird von mir erlebt, indem ich ein Ding irgendwo sehe be-
ziehungsweise sich bewegen sehe. Das Erlebnis dieser Tendenz ist
unmittelbar in und mit dem Akte dieser Wahrnehmung gegeben. Die
Tendenz haftet für mein Erleben an dem wahrgenommenen Ding, ist
daran gebunden, kurz, sie ist eingefühlt, und ist damit zugleich
Tendenz des Dinges.

Und damit hängt zugleich ein Weiteres zusammen. Wir sehen
auch bewegte Dinge nicht in gerader Richtung weitergehen. Darum
besteht doch auch bei ihnen jene Tendenz. Im Gegensatz zu ihr er-
scheint dann jede Abbiegung von der geraden Richtung als eine
Tätigkeit des Abbiegens oder erscheint begründet in einer beson-
deren Tendenz der Abbiegung, durch welche jene Tendenz über-
wunden wird. Diese Tendenz nun ist ihrem Ursprünge nach nichts
als die in dem tatsächlichen Abbiegen für mich liegende Tendenz
 
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