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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Riemann, Hugo: Die Ausdruckskraft musikalischer Motive
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0049

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DIE AUSDRUCKSKRAFT MUSIKALISCHER MOTIVE. 45

wenn er das betreffende Stück vorher nie gehört hat, so setzt zwar
dieses Erkennen und Benennen eine Summe von Erfahrungen voraus,
die uns gewöhnt haben, gewisse Kombinationen der Ausdrucksmittel
in Tonstücken angewandt zu finden, welche diese Namen tragen; aber
diese Erfahrungen bleiben doch in jedem Einzelfalle wieder auf die direkte
Wirkung der Mittel selbst angewiesen. Nicht eine verstandesmäßig
beobachtende, vergleichende und summierende Konstatierung von
Einzeltatsachen bringt das Erkennen zu stände, sondern vielmehr das
direkte Überstrahlen des Stimmungsgehaltes. Speziell bei den Tanz-
typen sprach und spricht vielleicht die Kenntnis der auszuführenden
»Pas« mit, auf welche die Melodiebewegung zugeschnitten ist; aber
diese Pas sind doch selbst auch nur wieder Ausdrucksmittel; schleifen,
abstoßen des Fußes, fest auftreten, hüpfen u. s. w. sind Gesten, sehr
verschieden zu bewertende Elemente eines Ausdrucks, mit dem sich
schließlich der Hand in Hand gehende musikalische decken muß,
wenn er nicht verfehlt erscheinen soll. Der besonders starke Erfolg
mancher Tanzkompositionen ist sicher mindestens zum Teil auf die
Korrespondenz und Homogenität der Melodieführung und der Tanz-
bewegungen zurückzuführen.

Doch muß man hier wie überall in der Musik Spontanes und Kon-
ventionelles auseinanderhalten. Spontan ist das unmittelbar dem Aus-
drucksbedürfnis Entstammende, daher mit überzeugender Wahrheit
wirklich Ausdrückende und sympathisch Ergreifende. Das Konventio-
nelle erhält durch Gewöhnung eine Bestimmtheit der Bedeutung, die
ihm, absolut, keineswegs ohne weiteres zugesprochen werden könnte.
Wagners »Leitmotive« sind bei ihrem erstmaligen Auftreten selbstver-
ständlich durchaus auf die elementaren Wirkungen der rein musika-
lischen Ausdrucksmittel angewiesen, erhalten aber bei späterem Wieder-
auftreten im Verlaufe der Handlung durch die Erinnerung an die
Situation, bei der sie zuerst eingeführt wurden, eine Bedeutung, die
weit über ihren elementaren Ausdruckswert hinausgeht und sie zu
Symbolen leitender Ideen der Dichtung macht. Diese aus der Erinne-
rung an eine Situation sich ergebende Spezialisierung und Konkreti-
sierung der Bedeutung musikalischer Motive ist keineswegs an Asso-
ziationen, an Vorstellungen aus anderen Sinnesgebieten gebunden, wie
sie sich erfahrungsmäßig so gern ästhetischen Wirkungen gesellen und
ebenfalls von dem direkten Eindrucke weitab führen. Solche Asso-
ziationen, z. B. die Vorstellung von hellem Licht bei starken hohen
Tönen oder von Dunkel bei piano gegebenen Tönen tiefer Lage, sind
zwar etwas durchaus Gewöhnliches; doch ist es irrig, dieselben als
den direkten Ausdruck mitbedingend anzusehen. Die illustrierende
Musik, die Klavierbegleitung des einfachen Liedes so gut wie das
 
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