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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Riemann, Hugo: Die Ausdruckskraft musikalischer Motive
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0061

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DIE AUSDRUCKSKRAFT MUSIKALISCHER MOTIVE. 57

ist wie das der energischen Künste nur das nackte Nacheinander?
Denn wie sich das zeitlich Verlaufende, Werdende, Geschehende für
das ästhetische Urteil zuletzt notwendig in ein fertiges Ganze, ein Ge-
wordenes, ein Geschehnis verwandeln muß, so müssen doch notwendig
die bunten Flecken des Gemäldes, die starren Umrißlinien des Steines
oder Erzes durch die Phantasie zum Leben erweckt, in Bewegung ge-
bracht, zu etwas Geschehendem umgewandelt werden, so daß an
ihnen der zeitliche Verlauf doch Anteil gewinnt, wenigstens für die
Illusion, an welche allein sich alle ästhetische Wertung knüpft. Der
zeitliche Verlauf der Melodiebewegungen verhindert also nicht nur
ihre Fixierung nicht, sondern bedingt dieselbe, und ebenso widerstrebt
weder das Gemälde noch die Skulptur der Belebung, fordert dieselbe
vielmehr gebieterisch. Auch ist der Musik ebensowenig der Ausdruck
der Ruhe, des Beharrens versagt wie den bildenden Künsten derjenige
heftig erregten Lebens. Nur die Form der Mitteilung ist also für
beide Kunstgattungen eine gegensätzliche; in Ziel und Wirkung kom-
men sie einander sehr nahe.

Dieselbe wichtige Rolle, welche für die darstellenden Künste die
räumlichen Maßverhältnisse spielen, kommt in den zeitlich verlaufen-
den Künsten den zeitlichen Maßverhältnissen zu, die man ganz
allgemein mit dem Ausdrucke Rhythmus zu bezeichnen pflegt. Zu-
nächst nimmt die ästhetische Bedeutung der absoluten oder relativen
Dauer der Einzeltöne einer Melodie unser Interesse in Anspruch. Die
rhythmischen Begriffe Lang und Kurz sind zwar durch Kombinationen
beinahe ebenso ausgiebig wie die melodischen Hoch und Tief, aber
isoliert betrachtet ergeben sie zunächst nur ein einziges positives Resultat.
Ein Ton erscheint uns absolut lang, wenn er länger währt als 1 Sekunde,
er erscheint absolut kurz, wenn er nicht einmal V2 Sekunde
währt. Das ist aber freilich bereits eine Aufstellung von sehr großer
Bestimmtheit, die gleich das Grundwesen des Rhythmus aufdeckt.
Warum liegt die Mitte zwischen Lang und Kurz oder, sofern es sich
um die Folge mehrerer Töne handelt, zwischen Langsam und Schnell,
so bestimmt zwischen */* und x/i Sekunde? Einfach darum, weil wir
von der Natur gezwungen sind, alles zeitliche Geschehen mit einem
uns gegebenen Maße zu messen, nämlich demjenigen des Herz-
schlages, des Pulses. Ebenso wie wir die Tonhöhe von dem
menschlichen Gesangsorgane aus werten, werten wir die Tondauer
an unserem angeborenen Metronom, dem Herzschlag, der alle unsere
Lebensfunktionen reguliert. Nicht nur alle Gehörswahrnehmungen,
sondern ebenso alle Gesichtseindrücke, überhaupt alle sinnlich wahr-
nehmbaren Folgeerscheinungen (z. B. auch solche für den Tastsinn)
werden durchaus nach demselben Maße als Schnell oder Langsam
 
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