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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Simmel, Georg: Über die dritte Dimension in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0070

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66 GEORG SEMMEL.

Gemäldes, in dem sie absolut keinen Anhaltspunkt außerhalb der rein
optischen Vorgänge besitzt. Hierdurch erscheint die dritte Dimension
als eine von dem gegebenen Bildeindruck prinzipiell geschiedene Welt,
während ebendeshalb die Macht dieses Eindruckes, dennoch die dritte
Dimension psychologisch einzuschließen, uns als eine umso größere
vorkommen muß; sie wirkt wie eine geheimnisvolle Beschwörung,
über ein Objekt mit einem Mittel Herr zu werden, dem jede unmittel-
bare Berührung dieses Objektes versagt ist. In diesem völligen Fern-
halten jeder unmittelbaren Mitwirkung des Sinnes, auf dem die Vor-
stellung der dritten Dimension eigentlich allein ruht — und der doch
gleichzeitigen Einbeziehung derselben in den Bildeindruck sehe ich
einen wesentlichen Wirkungswert, eine Grenzbestimmtheit und zugleich
Weite der künstlerischen Mittel gegenüber dem Natureindruck, die das
Interesse an der dritten Dimension im Bilde begründen hilft.

Hiermit wird nun eine sehr einfache Tatsache wirksam, die von der
fundamentalsten Bedeutung ist: daß jede Kunst prinzipiell nur auf je
einen Sinn wirkt, während jedes »wirkliche« Objekt prinzipiell auf eine
Mehrheit von Sinnen wirkt oder wirken kann. Denn dadurch eben
entsteht »Wirklichkeit«: eine Gestalt, die wir sehen, durch die wir aber
hindurchgreifen könnten, ohne daß sie ein Tastgefühl erweckte, wäre
nicht wirklich, sondern ein Spuk, und ebenso ein Ding, das wir
fühlten, ohne daß es im Zusammenschlage mit anderen ein Geräusch
ergäbe, oder ein Laut, der von keinem sieht- und faßbaren Erreger
ausginge. Der Punkt der Wirklichkeit ist derjenige, in dem eine Mehr-
zahl von Sinneseindrücken sich treffen, oder: der durch sie wie durch
Koordinaten festgelegt wird. Dabei besteht aber das Eigentümliche:
daß jeder Sinn eine qualitativ eigenartige Welt ausbildet, welche mit
der des anderen nicht die geringste inhaltliche Berührung besitzt. Daß
es derselbe Gegenstand ist, den ich sehe und den ich taste— dies
ist eine Synthese von Forderungen oder Kategorien her, die ganz jen-
seits der Sinnesbilder selbst stehen. Innerhalb der Wirklichkeit ent-
steht der Gegenstand durch das gleichberechtigte Zusammen völlig
selbständiger, gegeneinander fremder Bestimmtheiten. Durch den Gegen-
satz hiezu wird das Wesen des Kunstwerkes bestimmt. Wie viel ver-
schiedene Sinne ihm auch ihre Erregungen assoziativ zu gute kommen
lassen: dadurch, daß sein Gegenstand ausschließlich als Eindruck eines
Sinnes zu stände kommt, gewinnt die ästhetische Anschauung eine
innere Einheit, die ein Wirklichkeitsbild niemals gewähren kann; indem
in dem Gewirr zuströmender Reproduktionen ein Sinn die autokra-
tische Führung übernimmt, erhalten jene eine unvergleichliche Rangie-
rung und Organisiertheit. Die Sinnesbestimmtheiten werden durch diese
Hierarchie unter ihnen verhindert, daß der optische und die übrigen
 
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