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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Poppe, Theodor: Von Form und Formung in der Dichtkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0116

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112 THEODOR POPPE.

des Dichters. Zur Einprägung, Gliederung, Klärung des Zusammen-
hangs ist der Dichter in der Lage, ihn vorerst ohne sprachliche Fixie-
rung in der Phantasie wiederholt ablaufen zu lassen. Einzelne Punkte
mit relativ stärkstem Ausdrucksbedürfnis verdichten sich und werden
für sich völlig ausgebildet, ja, können unmittelbar sprachlich geformt
aus der Phantasie heraustreten (eine Art von Lautgebärden). Wird
schon hier die Schöpfung in gewissem Sinn abhängig von der Äuße-
rung, so gibt es noch eine weitere Anzahl von Äußerungen, die man
auch als heuristische Mittel bezeichnen kann. Hierher gehören in ge-
wissen Fällen Rhythmus und Reim, ferner Entwürfe, Pläne, Skizzen.
Alsdann sollte ein Beispiel erläutern, wie die Umformung eines
Wirklichkeitsphänomens in die sprachliche Darstellung geschieht. Der
Dichter kann den sinnlich lebendigen Eindruck eines solchen Wirklich-
keitsphänomens erreichen lediglich durch Ausnutzung sprachlicher
Mittel. Wie weit die Inhalte der sprachlichen Darstellung in sinnlicher
Frische vor die Phantasie treten, ist jedoch in individuellen Unter-
schieden der Vorstellungsfähigkeit begründet. Bedeutsam ist nur, daß
in der Poesie die Sprache in einer besonderen Weise der Verwendung
auftritt, die wohl zu unterscheiden ist von der praktischen und logi-
schen Sprachverwendung. Der phantasiemäßig existierende Zusammen-
hang bestimmt die Wort- und damit die Vorstellungsfügung, die das
Resultat einer gesteigerten Energie des sprachlichen Ausdrucksver-
mögens beim Dichter ist. Will man die Unterscheidung von Form-
und Funktionswerten auf die Dichtkunst übertragen, so muß man sich
vergegenwärtigen, daß das Verständnis einer Dichtung nicht un-
bedingt auf den Formwerten der Sprache beruht, sondern in erster
Linie auf dem Wissen um den Inhalt der Worte, auf dem »Sinn«.
Mit den Formwerten, die aufgezählt wurden, sind zugleich Funktions-
werte gegeben, die als Symbolik der formalen Elemente nur eine all-
gemeine Weise der Lebendigkeit ausdrücken. Ihre eindeutige Be-
stimmung erhält diese allgemeine Weise erst durch den »Sinn«. Für
die praktische und logische Sprachverwendung bleiben diese Form-
und Funktionswerte belanglos. Die Aufgabe des Dichters ist es aber,
eine Einheit aus diesen Faktoren und dem »Sinn« herzustellen und
den in jenen Weisen der Sprachverwendung belanglosen Funktions-
ausdruck der formalen Elemente wieder seelisch wirksam zu machen.
 
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