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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0148

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144 BESPRECHUNGEN.

heit und produktiver Stimmung« zu gelten habe, abgesehen davon, daß nach Geiger
diese »kraftbegabte psychische Einheit« in einer Vereinigung von innerem Bild und
produktiver Stimmung besteht. Gehörte bereits zur Urform produktive Stimmung,
dann würde man nicht verstehen, weshalb so viele Gedichtkeime ungeboren in der
Phantasie des Dichters bleiben. Ebensowenig hat mich das über die »innere Form«
Gesagte befriedigt. Sie soll eigentlich nur vom gestaltenden Dichter beurteilt werden
können, denn nur er wisse, ob die »potentielle Urform vollständig aktuell geworden
ist«. Dann ginge sie uns überhaupt nichts an, weil sie uns keine faßbare Seite
darböte. Und doch haben wir bei manchem Gedichte, in dem der Dichter »innere
Form« zu erkennen glaubt, den Eindruck, daß ein Riß hindurchgehe, und stimmen
mit dem Urteil des eigenen Schöpfers nicht überein.

Was Geiger über den Unterschied zwischen dem äußeren Erlebnis und der
»Urform« des Gedichtes sagt, hat meinen vollen Beifall, denn ich habe es mit anderen
Worten ebenso ausgesprochen. Beim Genießen eines Gedichtes dem »Rohmaterial«
nachforschen zu wollen, ist schon deshalb ein Unsinn, weil es unmöglich ist; das
hieße, um mit Hebbel (Tgb. Nr. 2388) zu reden, die Pinselstriche sehen statt des
Gemäldes. Ganz anders freilich liegt die Sache beim Forschen, da hat das Fahnden
»nach persönlichen und örtlichen Beziehungen« deshalb Wichtigkeit, weil wir nur
aus unserer Kenntnis des »Rohmaterials« Schlüsse auf die individuelle Tätigkeit des
Dichters zu ziehen und einen Prozeß hypothetisch zu erkennen vermögen, der sich
direkter Beobachtung verbirgt. Wer Wein genießen will, wird ihn allerdings nicht
chemisch analysieren. Das beweist nur, daß Weintrinken und Chemie zwei grund-
verschiedene Tätigkeiten, nicht aber, daß nur die eine oder die andere berechtigt ist.

Zutreffend handelt der Verfasser über die anschauliche Darstellung und über
ihren Unterschied von der Beschreibung, ähnliches hat übrigens schon lange vor
Lessing Breitinger in seiner kritischen Dichtkunst ausgeführt, dann hat Viehoff in
seiner Poetik mannigfache Beobachtungen wenigstens für das Epos vorgebracht.

Was Geiger bietet, geht aus einer Deduktion hervor und läßt darum häufig im
Stich, wenn man es an den Tatsachen prüft. Ich vermag nicht zuzugeben, daß
man auf seinem Wege weiter kommt, als auf dem von mir eingeschlagenen, den er
vollständig verwirft. Dagegen gestehe ich gerne zu, daß einiges in seiner Analyse
des dichterischen Schaffens förderlich und aufschlußreich ist.

Etwa gleichzeitig mit Geiger hat Ferdinand Gregori in einem Aufsatze der
»Österreichischen Rundschau« (Bd. II, S. 399—413) »Wesen und Wirken der Lyrik«
im Gegensatze zu mir und B. Litzmanns unglücklichem Buch über »Goethes Lyrik«
behandelt. Er verwirft die Dreiteilung in Lyrik, Epik und Dramatik, weil sich alle
drei Hauptgattungen durchdringen, nimmt eine Scheidung also auch nur nach »vor-
wiegenden Tendenzen« vor; ja er findet auch in jeder Gattung der Poesie noch die
musikalische und die bildende Kunst. Was er dann aber ausführt, schildert ledig-
lich die beglückende Wirkung der Lyrik auf einen einsamen Genießer und will zum
Genüsse lyrischer Kunstwerke anleiten. Das kann also höchstens das »Wirken der
Lyrik« treffen und nur indirekt ihr Wesen; es vermag aber vielleicht zur Schätzung
der Lyrik zu erziehen.

Als ich mein Buch »Lyrik und Lyriker« schrieb, standen mir eine ganze Reihe
von Werken noch nicht zur Verfügung, aus denen man jetzt reichen Gewinn
schöpfen kann. Sollte es mir einmal vergönnt sein, eine neue Auflage zu veran-
stalten, dann würde wohl im einzelnen manches geändert und gekürzt werden, aber
an der Hauptsache würde ich nicht rütteln, denn alle erhobenen Einwände haben
mich nicht überzeugt, auch Geiger hat meine Ansichten nicht erschüttert. Freilich
wird bei einer so intimen Kunst, wie es die Lyrik ist, die Individualität des Forschers
 
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