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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Volkelt, Johannes: Persönliches und Sachliches aus meinen ästhetischen Arbeitserfahrungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0184

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180 JOHANNES VOLKELT.

Bierbaum, Wedekind, Panizza zu teil geworden! Und je talentvoller
eine solche Dichtung ist, umso widerwärtiger, quälender und dauern-
der ist die Verstimmung, die über mich kommt. Lerne ich jedoch
einmal von einem solchen Dichter ein völlig oder doch verhältnis-
mäßig fleckenloses Erzeugnis kennen, so freue ich mich lebhaft dar-
über und sehe in ihm einen neuen Beleg dafür, daß auch aus trübem
Boden sich Schönes herauszuringen vermag.

Ohne Zweifel läßt sich eine treffliche Ästhetik auch unter Absehen
von der neuesten Kunst und Dichtung ausführen. Indessen glaube
ich doch, daß ein solches Absehen den Ausführungen der Ästhetik
an vielen Punkten leicht nachteilig werden kann. Ich wenigstens ge-
stehe, daß sich meine Einsicht in die Natur des ästhetischen Betrach-
tens und Genießens und in das Eigentümliche mancher ästhetischer
Gestaltungen an nicht wenigen Punkten unter dem Einfluß der von
der modernen Kunst empfangenen Eindrücke bereichert hat.

Wenn man zur Klarheit darüber kommen will, in welchem Maße
die Einführung des Kläglichen, Jämmerlichen, Entsetzlichen in die
Kunst möglich sei, ohne mit den Forderungen des Künstlerischen in
Widerstreit zu geraten, und wo bei solchem Unternehmen ein der-
artiger Widerstreit beginne, so wird man mit großem Nutzen die
naturalistischen Dichtungen der Gegenwart heranziehen. Ebenso
wird sich das Tragische der niederdrückenden Art ganz besonders an
den modernen Dramen studieren lassen. Oder man denke an die
Schilderung der Umwelt im Drama, an die Mittel des Stimmungsaus-
druckes in der Lyrik, an die Frage, wodurch sich das Erzählen im
Roman derart dichterisch gestalten lasse, daß es sich durchweg von
dem prosaischen Berichten abhebe: für alle diese Fragen ist es von
bedeutender Förderung, wenn man sich in die modernen Erzeugnisse
in Drama, Lyrik, Roman vertieft. Und Ähnliches gilt hinsichtlich der
bildenden Künste. Wenn ich mich daher überall angelegentlich be-
mühe, neben Beispielen aus der älteren Kunst auch solche aus der
gegenwärtigen zu bringen, so hat dies nicht nur in dem Streben nach
Mannigfaltigkeit und Abwechselung in den Beispielen und auch nicht
nur darin seinen Grund, daß ich zeigen möchte, wie sich auch an
den Schöpfungen der modernen Kunst die Erfordernisse des Ästheti-
schen verwirklichen. Sondern es hat solches Verfahren zugleich seinen
tieferen Hintergrund an der Überzeugung, daß sich durch das Herein-
ziehen der modernen Kunst die ästhetische Einsicht in vielen Stücken
bereichere, ausweite und verfeinere.
 
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