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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Cohn, Jonas: Zur Vorgeschichte eines Kantischen Ausspruchs über Kunst und Natur
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0186

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182 JONAS COHN.

eben der Triumph der Kunst, wenn sie Natur wird; und glücklich ist
die Natur, wenn ihr die Kunst unbemerkt zur Seite steht.« Treffen-
der ist die englische Übersetzung von Roberts1): »For art is perfect,
when it seems to be nature and nature hids the mark when she con-
talns art hldden whithin her.« Longin sagt das bei Gelegenheit der
rhetorischen Figur, die man Hyperbaton nennt und die in einer Ver-
setzung der Worte und Gedanken aus ihrer gewöhnlichen Ordnung
besteht. Eine solche Umstellung ist geeignet, den Eindruck natürlich
leidenschaftlichen Sprechens zu machen. Dieser Zusammenhang
könnte vermuten lassen, daß in der rhetorischen Literatur sich weitere
Analogien zu unserem Ausspruch fänden. Indessen habe ich bei
Aristoteles, Cicero und Quintilian vergebens danach gesucht. Über-
haupt ist mir ein zweites Vorkommen des ganzen Gedankens in der
antiken Literatur nicht bekannt geworden. Dagegen findet sich der
zweite Teil mit einer interessanten Abweichung bei Ovid, Metamor-
phosen III, 157.

Cuius in extremo est antrum nemorale recessu
Arte laboratum nulla; simulaverat artem
Ingenio natura suo.

(Im tiefsten Winkel liegt eine Waldhöhle,

nicht durch Kunst herausgearbeitet; durch eigene Kraft

hatte die Natur der Kunst nachgeeifert.)

Während also bei Longin die Natur am schönsten ist, wenn sie
wirkliche Kunst verborgen enthält, wird bei Ovid ein Naturspiel ge-
priesen, das Kunst zu sein nur scheint. Ganz ähnlich heißt es in
Longos' Hirtenroman Daphnis und Chloe: »In der Höhe wölbten die
Äste sich zusammen und vermischten ihr Gezweige, so daß auch hier
als Kunst erschien, was Natur war« 2). Es ist mir sehf wahrschein-
lich, daß Kenner der Antike diese mehr zufällig gefundenen Stellen
noch vermehren könnten.

Auch in der Renaissance finden sich Analogien. Bei der Beschrei-
bung des Gartens der Armida sagt Tasso3):

E quel che'l bello e'l caro accresce a l'opre,
L'arte che tutto fa, nulla si scopre.

*) In seiner Ausgabe des Longin Cambridge 1899, S. 103.

2) IV, 2. Übersetzung von Passow. Griechisch (Longos ed. Seiler, Leipzig 1843,
S. 64) heißt der entscheidende Satz: »e86v.si jjivtot xal 4] xoüxiuv 90315 slvai xsyvi]t;.«
Die Prägnanz des griechischen Ausdrucks geht auch in Seilers lateinischer Über-
setzung verloren: »Putasses utique etiam haec, quae natura sane ita se habebant,
ab arte perfecta.«

s) Gerusalemme liberata 16. Gesang, 9. und 10. Strophe. Ed. critica a cura di
A. Solerti. Firenze 1895, III, 179.
 
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