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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Spitzer, Hugo: Apollinische und dionysische Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0221

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APOLLINISCHE UND DIONYSISCHE KUNST. 217

zugeben und anzuerkennen, daß man kein Recht besitzt, einen Gegen-
satz zwischen Affekten und sinnlichen Gefühlen zu statuieren, so daß
etwa die einen begrifflich die anderen ausschlössen. Vielmehr müßte
einzelnen sinnlichen Emotionen, nämlich eben denjenigen, welche zu-
gleich Formen ästhetischen Wohlgefallens oder Mißfallens sind, dann
mit der ästhetischen auch die affektive Natur unweigerlich zuge-
sprochen werden. Das hieße freilich den bisherigen Affektbegriff, wie
er sich in der psychologischen Wissenschaft befestigt hat, gänzlich
umstoßen und einen neuen an seine Stelle setzen. Aber wer wüßte
nicht, wie häufig in der Tat auf den verschiedensten Gebieten solche
Begriffsänderungen vorgenommen werden müssen, sei es, daß an einer
Unterart irgend welche bisher unbekannten Merkmale entdeckt werden,
die der geltenden Definition widerstreiten, sei es, daß man sich von
der Notwendigkeit überzeugt, gewisse Einzelfälle dem Begriff zu sub-
sumieren, die man vordem als außerhalb seiner Sphäre stehend be-
trachtet hatte?!

Es wäre der letztere Fall, der zunächst hier vorläge. Durch die
Annahme, daß das Wohlgefallen an einer schön geschwungenen Linie,
an einer hübschen Farbenzusammenstellung oder an einem voll und
rein klingenden Ton ein Affekt ist, würde die bisherige Konzeption
jedenfalls insofern modifiziert, als ihr Umfang eine beträchtliche Er-
weiterung erführe. Denn so viel ist gewiß, daß die Psychologie, in-
wieweit sie überhaupt einen besonderen Affektbegriff ausbildete, die
Regungen solchen Wohlgefallens vor Stumpf fast niemals zu den
Affekten gerechnet hat. Wer Gemütsbewegungen von Gefühlen oder
Emotionen unterschied, der gründete diese Unterscheidung zumeist
wohl hauptsächlich auf die Differenz, die er eben zwischen ästhe-
tischen Elementargefühlen auf der einen und Zuständen wie Furcht,
Zorn, Mitleid auf der anderen Seite zu bemerken glaubte, und hütete
sich darum gar sehr, auch die ersteren Gefühle als Gemütsbewegungen
oder Affekte zu bestimmen. Der Rahmen der alten Tafel der Affekte
wäre also gesprengt, sobald man feststellen würde, daß die Emotionen,
welche das sogenannte Sinnlich-Schöne und das Formal-Schöne er-
wecken, tatsächlich Gemütsbewegungen sind. Dem Genus wären
neue Spezies einverleibt; der Umfang des Begriffes hätte sich offen-
bar geändert. Indes sagt gewissermaßen ein logischer Instinkt, daß
auch der Inhalt ein anderer geworden sein müßte, um die Anwendung
auf die Gesamtheit der ästhetischen Gefühlsphänomene zu verstatten.
Worin besteht aber dann nach der inhaltlichen Seite die Veränderung
des Begriffes, durch die er erst tauglich wird, sich auch über alle
Emotionen des Schönen und Häßlichen zu spannen, und was sind
die Vorzüge solcher Veränderung? Hat es dann überhaupt einen Sinn,
 
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