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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Spitzer, Hugo: Apollinische und dionysische Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0224

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220 HUGO SPITZER.

ähnlich wie zwischen den Furchtgefühlen in der weiteren Bedeutung,
innerhalb deren sich ja zahlreiche spezielle Affekte mit Leichtigkeit
unterscheiden lassen. Diese Möglichkeiten bieten sich, wie gesagt,
bei ganz abstrakter, die Besonderheit des Gegenstandes ignorierender
Auffassung. Allein die flüchtigste Musterung der ästhetischen Gefühle
in der Mannigfaltigkeit ihrer einzelnen Gestaltungen muß bereits zur
Überzeugung führen, daß die erste dieser verschiedenen Annahmen,
diejenige, wonach es nur einen, nicht weiter zu spezifizierenden ästhe-
tischen Affekt gibt, im Ernste kaum diskutierbar ist. Man kann hier-
bei sogar absehen von den Unlustgefühlen des Häßlichen und künst-
lerisch Verfehlten, die doch auch zu den ästhetischen Emotionen ge-
hören. Wer nur einige Urteilsfähigkeit in psychologischen Dingen
besitzt, der muß schon den Gedanken als Absurdität von sich weisen:
das stille, kühle Wohlgefallen an einer regelmäßigen geometrischen
Figur, die Lust, welche eine fröhliche Melodie wachruft, und die tiefe,
aber gleichwohl ästhetischen Genuß bietende Erschütterung, mit der
die Aufführung eines wirksamen Dramas den Zuschauer gefangen
nimmt, — alle diese Gefühle seien so sehr von einerlei Art, daß sie
keine Trennung in besondere Gefühlstypen gestatten. Es leuchtet viel-
mehr ein, daß die mancherlei ästhetischen Emotionen sich durchaus
nicht bloß dem Grade, sondern der Qualität nach unterscheiden, daß
sie also keineswegs bloße Abstufungen der nämlichen Gemütsbewe-
gung sind, etwa wie die mehr oder minder heftigen Zorngefühle, die,
von den leisesten Wallungen bis zu den höchsten Steigerungen in der
Wut hinauf, trotz der so ungleichen Intensität doch offenbar einen
einzigen Affekt repräsentieren. Dieser Sachverhalt wird in sehr cha-
rakteristischer Weise auch dadurch beleuchtet, daß in jenen seltenen
Ausnahmsfällen, wo ein Psychologe tatsächlich eine besondere Affekt-
gattung für die ästhetischen Reaktionen aufstellt, er es doch nicht
wagt, den Singular zu gebrauchen, und also, wie Stumpf, nicht vom
»ästhetischen Affekt«, sondern von »den ästhetischen Affekten« spricht1).
Mit den ästhetischen Gefühlen hat es demnach dieselbe Bewandtnis
wie mit den ethischen. Sie stehen nach dieser Richtung zu den
religiösen Emotionen in einem gemeinsamen Gegensatze. Es ist wohl
häufig von einem »religiösen« oder, in verwandter Bedeutung, von
einem »universellen Affekt« die Rede, weil ungeachtet der zahlreichen

') Das einzige wissenschaftlich beachtenswerte Buch, in dem meines Wissens
-der ästhetische Affekt« aufgestellt wird, *An Introduction to Psychology« von Cal-
kins, befaßt hierunter wenigstens nur die Arten des ästhetischen Wohlgefallens und
erklärt alles Mißfallen an Häßlichem für nicht ästhetisch. Damit aber wird der
Begriff der ästhetischen Gefühle von Grund aus geändert und der ganzen psycho-
logischen und philosophisch-ästhetischen Tradition der Krieg erklärt.
 
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