ZUM PROBLEM DER ÄSTHETISCHEN ERZIEHUNG. 303
3. Der Naive erfreut sich ebenso wie der Kenner an der Formen-
schönheit des Dargestellten, aber er tut es auf andere Weise. Zwei
Unterschiede möchte ich hier hervorheben. Der Naive hat erstens die
Gewohnheit, in der bewegten Wirklichkeit die Einzelform aus ihrer
oft zufälligen und wechselnden Umgebung herauszuheben und rein
für sich zu betrachten. Aber es kommt noch ein zweites hinzu. Von
dem Naiven wird die besondere »Ansicht«, die uns die Einzelgestalt
von diesem oder jenem Standpunkte aus, in dieser oder jener Haltung
und Bewegung bietet, in der Regel nicht als solche beachtet, weil sie
eben gleichfalls wechselnd und zufällig ist. Er hat vielmehr die Fähig-
keit erworben, sich aus vielen »Ansichten« eine sozusagen »rundherum-
gehende« Vorstellung von dem zu bilden, was das Einzelding im Sinne
des naiven Realismus an sich und dauernd ist, eine Vorstellung, die
aus Anschauungen entstanden, aber als Ganzes doch nicht mehr an-
schaulich ist. Für den außerästhetischen Gebrauch ist es von größter
Wichtigkeit, über diese Fähigkeiten zu verfügen; denn nur so gelingt
die für das Leben so nötige Ablösung bestimmter, sich relativ gleich-
bleibender Körperdinge aus der sich verändernden Umgebung und aus
dem Wechsel der »zufälligen Ansichten« der Dinge selbst. Aber auch
hier macht sich die monarchische Verfassung des Bewußtseins geltend,
ohne deren Würdigung weder Ästhetik noch ästhetische Erziehung
möglich ist: das ästhetische Genießen der Formenschönheit ist bei
dem Naiven viel zu sehr auf die isolierte Einzelgestalt und ihre dauern-
den, von den zufälligen Ansichten unabhängigen Eigenschaften kon-
zentriert, als daß er dem Kunstwerk gegenüber die Einstellung finden
könnte, die dessen Eigenart gerecht zu werden vermag. Er stellt mit
Vergnügen fest, wie reizend die jungen Mädchen von Vautier und
Defregger sind, aber sie gefallen ihm fast in derselben Weise, wie
wenn sie in Wirklichkeit vor ihm ständen. Er wundert sich darüber,
daß Raffael so viele Madonnen malen mochte — sie sind ja sehr
hübsch, aber auf die Dauer findet er die Wiederholung doch ein
wenig langweilig! — und er sieht nicht, daß es sich dabei immer
wieder um andere Probleme und andere Lösungen handelt. Hier er-
hebt sich abermals die Forderung nach neuen Einstellungen.
Zunächst muß der ästhetisch Ungeschulte darauf achten lernen,
daß es im Kunstwerk nicht auf jene unanschauliche Schönheit ankommt,
die im Sinne des naiven Realismus dem Körper an sich« eigen ist.
Für den Pferdekenner, der nur als solcher urteilt, bleibt ein edles Pferd
das schöne Tier, das es eben einmal ist«, ganz unabhängig von der
Haltung, die es einnimmt, von der Bewegung, die es ausführt, und
von dem Standpunkt, von dem es betrachtet wird. Der Künstler da-
gegen ist stets insofern ein Impressionist, als es ihm gerade um diese
3. Der Naive erfreut sich ebenso wie der Kenner an der Formen-
schönheit des Dargestellten, aber er tut es auf andere Weise. Zwei
Unterschiede möchte ich hier hervorheben. Der Naive hat erstens die
Gewohnheit, in der bewegten Wirklichkeit die Einzelform aus ihrer
oft zufälligen und wechselnden Umgebung herauszuheben und rein
für sich zu betrachten. Aber es kommt noch ein zweites hinzu. Von
dem Naiven wird die besondere »Ansicht«, die uns die Einzelgestalt
von diesem oder jenem Standpunkte aus, in dieser oder jener Haltung
und Bewegung bietet, in der Regel nicht als solche beachtet, weil sie
eben gleichfalls wechselnd und zufällig ist. Er hat vielmehr die Fähig-
keit erworben, sich aus vielen »Ansichten« eine sozusagen »rundherum-
gehende« Vorstellung von dem zu bilden, was das Einzelding im Sinne
des naiven Realismus an sich und dauernd ist, eine Vorstellung, die
aus Anschauungen entstanden, aber als Ganzes doch nicht mehr an-
schaulich ist. Für den außerästhetischen Gebrauch ist es von größter
Wichtigkeit, über diese Fähigkeiten zu verfügen; denn nur so gelingt
die für das Leben so nötige Ablösung bestimmter, sich relativ gleich-
bleibender Körperdinge aus der sich verändernden Umgebung und aus
dem Wechsel der »zufälligen Ansichten« der Dinge selbst. Aber auch
hier macht sich die monarchische Verfassung des Bewußtseins geltend,
ohne deren Würdigung weder Ästhetik noch ästhetische Erziehung
möglich ist: das ästhetische Genießen der Formenschönheit ist bei
dem Naiven viel zu sehr auf die isolierte Einzelgestalt und ihre dauern-
den, von den zufälligen Ansichten unabhängigen Eigenschaften kon-
zentriert, als daß er dem Kunstwerk gegenüber die Einstellung finden
könnte, die dessen Eigenart gerecht zu werden vermag. Er stellt mit
Vergnügen fest, wie reizend die jungen Mädchen von Vautier und
Defregger sind, aber sie gefallen ihm fast in derselben Weise, wie
wenn sie in Wirklichkeit vor ihm ständen. Er wundert sich darüber,
daß Raffael so viele Madonnen malen mochte — sie sind ja sehr
hübsch, aber auf die Dauer findet er die Wiederholung doch ein
wenig langweilig! — und er sieht nicht, daß es sich dabei immer
wieder um andere Probleme und andere Lösungen handelt. Hier er-
hebt sich abermals die Forderung nach neuen Einstellungen.
Zunächst muß der ästhetisch Ungeschulte darauf achten lernen,
daß es im Kunstwerk nicht auf jene unanschauliche Schönheit ankommt,
die im Sinne des naiven Realismus dem Körper an sich« eigen ist.
Für den Pferdekenner, der nur als solcher urteilt, bleibt ein edles Pferd
das schöne Tier, das es eben einmal ist«, ganz unabhängig von der
Haltung, die es einnimmt, von der Bewegung, die es ausführt, und
von dem Standpunkt, von dem es betrachtet wird. Der Künstler da-
gegen ist stets insofern ein Impressionist, als es ihm gerade um diese