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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Hamann, Richard: Individualismus und Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0325

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INDIVIDUALISMUS UND ÄSTHETIK. 321

Zusammenwirkens der Menschheit zu den großen Kulturaufgaben durch
Spezialisierung der einzelnen Leistung. Diese Spezialisierung steht
jedoch jener ästhetischen Individualisierung ganz und gar entgegen,
da diese das Originelle in der besonderen, aber untrennbaren Ver-
mischung menschlicher Qualitäten zu einem Organismus erblickt, jene
in der einseitigen Ausbildung einer Eigenschaft zur Virtuosität. Das Be-
sondere ist hier nicht die Person, sondern die Sache, das herzustellende
Produkt, und wo dieses, in vielen Exemplaren fabriziert, eine Fülle
von spezialisierten Talenten verlangt, da führt die absolute Gleichheit
der Arbeitsleistung zu einer Egalisierung der Arbeitskräfte, wie sie
strenger nicht gedacht werden kann. Die Arbeitsteilung macht mehr
als die strengste Gemeinschaft den Menschen zur Maschine.

Ein anderer Rechtsgrund scheint stichhaltiger. Die Anerkennung der
Eigentümlichkeiten könnte abhängen von ihrem Gewahrwerden infolge
der schon erwähnten Entwickelung der Unterschiedsempfindlichkeit,
die nachträgliche Sanktion eines schon bestehenden Zustandes sein,
indem man ihn zum Moralgesetz erhebt. Ohne Zweifel ist das
19. Jahrhundert mehr auf die Erkenntnis der Eigenart des einzelnen
aufmerksam geworden als frühere Zeiten. Die Aufhebung der groben
Klassifizierungen naturwissenschaftlicher Systeme durch den Darwi-
nismus, die Erkenntnis unendlicher Abänderungen, die vom niedrig-
sten Lebewesen bis zum höchsten ohne Sprung emporführt, ist ein
Ausdruck dieser Tatsache. Aber wenn auch ein Fortschritt festzu-
stellen ist in der Entwickelung von einem Standpunkt, der ganze
Mengen von Tatsachen gleich sieht, der nur einen Menschen, einen
Hund, eine Pappel kennt, bis zu jener Verfeinerung des Blickes, vor
dem kein Blatt dem anderen gleicht und jeder Mensch das Menschen-
tum in einer anderen Form repräsentiert, so scheint mir, wird sich der
Geist, auch wo er rein von ästhetischen Bedürfnissen nach neuen
Sensationen getrieben ist, dabei nicht beruhigen. Diese minimalen
Reize müssen auf die Dauer ermüden und verwirren, wie das Flirren
eines kreisenden Lichtrades oder der Blick aus dem Fenster eines
Schnellzuges. Er wird sich auf eine Stufe erheben, wo die Erfassung
des Allgemeinen nicht auf Weitsichtigkeit oder Augenschwäche beruht,
sondern auf dem bewußten Willen, mit dieser Minimität der Differenzen
aufzuräumen, Ordnung zu schaffen und zusammenzufassen, um sich
nicht zu zersplittern und im Einzelnen und Kleinen zu verlieren. Es
entstehen so aus praktischem Bedürfnis willentlich wieder große
Gruppen, Typen, die sich stark voneinander abheben durch den Ge-
sichtspunkt, den zu wählen dem Bewußtsein freisteht. Damit gewinnt
auch die eigene, ästhetisch sich betätigende Individualität, das beson-
dere Temperament, freies Feld.
 
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