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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Landmann-Kalischer, Edith: Über künstlerische Wahrheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0481

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ÜBER KÜNSTLERISCHE WAHRHEIT. 477

jenes Zusammentreffen künstlerischer und objektiver Wahrheit nur
ein Einzelfall war, und daß diese zur Begriffsbestimmung jener nicht
benutzt werden darf.

Wir mußten zwischen zwei Arten von Erinnerungsvorstellungen
unterscheiden. Die eine Art, deren Eigentümlichkeit dadurch bedingt
war, daß die Eindrücke sich häufig wiederholen und schon vorhan-
denen Vorstellungen entsprechen, brachte in ihrer künstlerischen Dar-
stellung die Wahrheit des Typischen, des Charakteristischen oder
Normgemäßen hervor; die andere, deren Struktur durch Gefühl und
Interesse bestimmt wurde, erzeugte in ihrer künstlerischen Wieder-
gabe die Wahrheit der Gefühls- und Stileinheit. Diese stand in gar
keinem oder in direkt gegensätzlichem Verhältnis zur objektiven Wahr-
heit, jene, die Wahrheit des Typischen, traf zum Teil mit ihr zusammen.

3. Phantasievorstellungen.

Die Phantasievorstellungen sind von den Erinnerungsvorstellungen
durch keine scharfe Grenze geschieden. Wenn sie sich auch durch
die willkürliche Synthese ihrer Elemente von diesen unterscheiden,
so geht doch die passive Form der Phantasietätigkeit unmittelbar
aus den gewöhnlichen Erinnerungsfunktionen hervor, und unter
dem Einfluß unserer Gefühle und unseres Willens wandeln sich die
Erinnerungsbilder in Phantasiebilder um. Zwischen Phantasie und Er-
innerung besteht nur ein Unterschied des Grades. Jene ist nur eine
bewußte Ausübung dessen, was diese unbewußt und unwillkürlich
ständig leistet1). Da nun die Kunst, indem sie, wie wir sahen, den
unbewußten Fälschungen der Erinnerung getreulich folgt, weit entfernt,
die Wahrheit zu verletzen, eine solche vielmehr erst herausarbeitet, so
wird sie auch, wenn sie sich völlig der Phantasie überläßt, ebenso wahr
oder wahrer sein können, als die der Wirklichkeit sich eng anschließende
Kunst. In der Tat ist die Umgestaltung, welche die Dinge der Wirk-
lichkeit auch in der naturgetreuesten Darstellung durch die Kunst er-
fahren, so groß, daß die willkürlichen Zutaten der Phantasie daneben
nicht in Betracht kommen. »Der Mensch im Bilde ist ein so merk-
würdiges Fabelwesen im Vergleich zu dem Menschen, der auf der
Straße spaziert, daß seine Hörner und Bocksfüße eine ganz verschwin-
dende Sonderheit bedeuten«2). Ob eine Geschichte erfunden oder einer
wirklichen nacherzählt ist, ist für ihre künstlerische Wahrheit in jedem
Betracht gleichgültig, »... und es bedeutet etwa dasselbe, wenn wir

') Vgl. Wundt, a. a. O. S. 318—320.

2) Meier-Graefe, Der Fall Böcklin. S. 23.
 
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