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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Landmann-Kalischer, Edith: Über künstlerische Wahrheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0487

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ÜBER KÜNSTLERISCHE WAHRHEIT. 483

scheinlichkeit eine selbständige Kunstwirkung sieht. Die genannten
Begründungen berücksichtigen die verschiedensten ästhetischen Ab-
sichten des Kunstwerks, nur gerade die gegenüber dem Wahrschein-
lichen nächstliegende nicht: die Wahrheitswirkung.

Für uns kann das Wahrscheinliche nichts anderes bedeuten als das
als wahr Erscheinende, das psychologisch und daher auch künstlerisch
Wahre. Das Wahrscheinliche ist die Wahrheit der Kunst, weil es das
als wahr Erscheinende ist. Von zwei Seiten her war diese Frage
zu betrachten: inwieweit — so mußte man fragen — muß, um zur
künstlerischen Darstellung zu taugen, das Wirkliche umgebildet, in-
wieweit, auf der anderen Seite, das rein Phantastische der Wirklichkeit
genähert werden? Von beiden Seiten her kam man auf das Wahr-
scheinliche. Kommt man von der Wirklichkeit her, so bedeutet die
Forderung der Wahrscheinlichkeit dies, daß die Kunst das »nur« Wahr-
scheinliche darzustellen brauche — kommt man vom Phantastischen,
so bedeutet sie, daß die Kunst doch »immerhin« wahrscheinlich sein
müsse. Damit ist aber gerade das psychologisch Wahre nach beiden
Seiten umschrieben. Es fällt nicht mit dem Wirklichen zusammen —
denn wie oft kommt uns das Wirkliche unwahrscheinlich vor, wie oft
rufen wir einem Wirklichen gegenüber aus: »Das ist nicht möglich« —,
es darf aber auch kein völlig Phantastisches, kein den -»ventes de raison«
Widersprechendes sein, weil dieses unvorstellbar wäre.

Welche Art von Verbindungen im einzelnen als wahr erscheint, läßt
sich nicht allgemein sagen; es hängt wesentlich von dem Inhalte der
betreffenden Vorstellungen ab. Wenn Sulzer1) sagt: »Es geschehen
bisweilen Dinge ... wo eine Wirkung ohne Ursache scheint. Der-
gleichen Dinge, wenn sie auch noch so gewiß wären, nimmt die
Vorstellungskraft ungern an«, so ist dem entgegenzuhalten, daß unter
Umständen die Vorstellungskraft das Spiel der tollsten Zufälle willig
hinnimmt. Derselbe Zufall kann uns völlig wahrscheinlich und gänzlich
unwahrscheinlich vorkommen, je nachdem der Inhalt der Vorstellungen
uns leichtgläubig stimmt oder nur widerwillig von uns geglaubt wird.
Das Gewöhnliche, Normale oder Angenehme sind wir leicht bereit zu
glauben, das Absonderliche, Außerordentliche und Tragische bedarf,
um für wahr gehalten zu werden, stärkerer Motivierung. Muß uns
doch auch in der Wirklichkeit das, was entweder unseren am Immer-
wiederkehrenden genährten Vorstellungen oder unseren Wünschen zu
sehr widerspricht, als wahr erst bewiesen werden. Damit kommen
wir auf die Notwendigkeit, die Form der künstlerischen Wahrheit in
der Tragödie.

') »Allgemeine Theorie der schönen Künste.« Artikel: Wahrscheinlichkeit.
 
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