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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Spitzer, Hugo: Apollinische und dionysische Kunst, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0552

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548 HUGO SPITZER.

apollinische und der dionysische Typus auf die verschiedenen Künste
verteilen, ob überall eine gewisse Gleichmäßigkeit in dem von beiden
beanspruchten Räume existiert, oder, wenn dies nicht der Fall ist, in
welchen Künsten dieser und in welchen jener das Übergewicht hat.
Endlich und viertens taucht das Problem einer etwa im Laufe der
geschichtlichen Entwicklung Platz greifenden Verschiebung der rela-
tiven Wichtigkeit dieser zwei Arten von Kunstgenuß empor. Eine
solche Verschiebung kann sich als regellos abwechselnde Vorherrschaft
bald der einen, bald der anderen Art darstellen, sie kann aber auch
eine feste Richtung einhalten, mithin das Bild gleichsinnig fortschreiten-
der Bewegung bieten, indem sie eine stetige Zunahme der Bedeutung
des einen Typus auf Kosten des anderen gewahr werden läßt. Und
das Wachstum der Bedeutung selbst kann sich — die Sache rein theo-
retisch genommen — wieder in zweifacher Form kundgeben: es kann
als immer höhere relative Wertschätzung der fraglichen Gattung von
Kunstwirkungen zu Tage treten, und es kann ebensowohl ein fak-
tisches Überwuchern dieser Gattung und eine Zurückdrängung der
andern durch Verringerung der Menge der ihr entsprechenden künst-
lerischen Gebilde sein. Da es sich jedoch von selbst versteht, daß
erhöhtes Ansehen auch eine Steigerung der Produktion, verringerte
Wertschätzung auch eine Abnahme der Zahl der betreffenden Hervor-
bringungen zur Folge hat, so ist die Unterscheidung von geringem
Belang und darf praktisch außer acht gelassen werden. Es genügt,
zu ermitteln, ob überhaupt das Verhältnis der beiden Effekt- oder Ein-
drucksarten, die naturgemäß zugleich als zwei Seiten oder Momente
am Kunstwerk erscheinen, in Bezug auf den Wert, der einer jeden
zugemessen wird, innerhalb der Kunstgeschichte und der Geschichte
des ästhetischen Geschmacks sich ändert. Trotz dieser Vereinfachung
der Untersuchung in dem einen Punkte aber harrt, wie man sieht,
eine Fülle bedeutsamer Probleme der Erledigung.

Zuvörderst also: gibt es rein apollinische Kunstwirkungen? Um
diese Frage richtig zu beantworten, muß nicht nur auf die sozusagen
»objektiven« Unterschiede innerhalb der Kunst oder der Künste, son-
dern auch auf das verschiedene Verhalten der Personen von ver-
schiedener ästhetischer Bildung gegenüber ein und demselben Kunst-
werk Rücksicht genommen werden. Der Begriff der »objektiven
Differenzen« läßt sich mit ebenso leichter Mühe klar machen wie die
Tatsache ihres Vorhandenseins. Goethes »Faust« und das Ornament
an der Fassade eines Hauses sind beides künstlerische Erzeugnisse,
jenes ein Werk der Poesie, dieses eine Teilschöpfung der Baukunst.
Aber was für Gefühle werden im einen und im anderen Falle ausge-
löst — Gefühle, die unter bestimmten Voraussetzungen mit innerer
 
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