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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Spitzer, Hugo: Apollinische und dionysische Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0248

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244 HUGO SPITZER.

daß es sich in der Tat so verhält, und eben darum sind einstweilen, will
man vollkommen sicher gehen, die mit ästhetischen Leistungen betrauten
Affekte nicht einfach, nicht ohne nähere Erklärung als »ästhetische
Gefühle«, sondern nur als »ästhetische Partialgefühle« zu bezeichnen.
Im Zusammenhange mit den früheren Feststellungen ist aber auch
dieses Resultat bedeutsam genug. Den ganzen Gang der bisherigen
Erörterungen überblickend und alle Hauptpunkte teils resümierend,
teils durch neue, rasche Streiflichter beleuchtend, darf man folgendes
aussprechen: So wenig es bloß ein einziges ethisches Gefühl gibt — es
wäre denn als solches das Pflichtgefühl anzusehen, das, soweit es
wirklich emotionaler Natur ist, allerdings unter den sittlichen Gefühlen
eine bevorzugte Stellung einnimmt und durch sein Hinzutreten auch
den übrigen Affekten erst das spezifisch moralische Gepräge ver-
leiht —, so wenig ist ein einziges und einheitliches, überall ganz
gleichartiges ästhetisches Gefühl vorhanden. Man kann daher nicht,
ohne die Gefahr von Mißverständnissen heraufzubeschwören, von
einem moralischen Gefühl sprechen, wenn man die Gesamtheit der
sittlich wertvollen Gemütsbewegungen meint, während bei dem Aus-
drucke »das ästhetische Gefühl« Mißverständnisse allerdings nicht zu
fürchten sind, aber dafür, falls er richtig sein soll, die kollektive oder
gattungsmäßige Anwendung klar zu Tage liegt. Heißt es, und zwar
unter Umständen, die gewisse vulgäre Bedeutungen ausschließen lassen,
einem Menschen fehle das sittliche Gefühl, so wird jedermann an das
Pflichtbewußtsein denken, das ja zweifellos mit mancherlei emotionalen
Erscheinungen verknüpft ist; heißt es dagegen, sein ästhetisches Gefühl
sei mangelhaft ausgebildet, so besteht kein Zweifel, daß die unge-
nügende Entwicklung einer großen und weiten Gruppe von Gefühlen,
die Vernachlässigung einer ganzen Gefühlsrichtung gerügt wird. In
der auf Exaktheit haltenden Sprache der Wissenschaft ist daher dieser
Singular nur unter besonderen Bedingungen statthaft. Der Psychologe
darf z. B. wohl die »Merkmale des ästhetischen Gefühls« bestimmen
und aufzählen — die generelle, begriffsmäßige Fassung ist ja hier selbst-
verständlich —, aber er darf nicht etwa das Kapitel, welches von den
Emotionen des Schönen, Erhabenen, Häßlichen u. s. w. handelt, »Das
ästhetische Gefühl« überschreiben. Das besagt aber nichts anderes, als
daß kein einzelner, typischer Affekt existiert, welchem der Name »die
ästhetische Gemütsbewegung« gebühren würde. Daß die ästhetischen
Gefühle doppelte Qualität aufweisen, nämlich bald als Lust-, bald als
Unlustgefühle sich darstellen, je nachdem sie durch Schönes oder
durch Häßliches, durch Gefallendes oder durch Mißfallendes wach-
gerufen werden, beweist allein schon die Unmöglichkeit der Annahme
solch eines einzigen ästhetischen Affekts. Darum hat auch niemand
 
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