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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Stieglitz, Olga: Die sprachlichen Hilfsmittel für Verständnis und Wiedergabe von Tonwerken, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0405

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HILFSMITTEL FÜR VERSTÄNDNIS U. WIEDERGABE V. TONWERKEN. 401

Leid und Verklärung! So zusammengedrängt, erheischte die Grund-
idee dieser nur zu wahren Fabel einen gewitterschwülen, sturmgrol-
lenden Ausdruck. Ein tiefer Schmerz, der durch trotzbietendes Aus-
harren triumphiert, bildet den musikalischen Charakter dieser Vorlage.«

Welche Stellung Liszt selbst dem Programm zuerkannte, über das
er sich wiederholt schriftlich ausgesprochen hat, geht am besten aus
seiner Studie »Berlioz und seine Haroldsinfonie«x) hervor. In der
vorausgeschickten Angabe der leitenden Gedanken heißt es: »Das Pro-
gramm hebt das Gefühl als Ur- und Hauptquelle aller Musik nicht
auf: die Verbindung der Instrumentalmusik mit der Poesie erweitert
und präzisiert Grenze und Inhalt des Gefühls.« Wenn er dann im
Verlaufe der Erörterung die Abneigung vieler Musikfreunde gegen das
Programm zurückführt auf die Furcht, in der Freude am subjektiven
Hören gehindert zu werden, so rechnet er mit der Tatsache, daß in
die absolute Musik häufig von seiten der Hörer ein bestimmter Vor-
stellungsgehalt hineingetragen wird. Allerdings liegen auch hierfür so
zahlreiche Zeugnisse vor, daß man zu der Überzeugung gelangen
muß, darin nicht etwas Zufälliges, Individuelles, sondern einen tiefer
und allgemeiner begründeten Zug modernen Seelenlebens zu er-
blicken. Die Erklärung scheint mir in folgender Richtung gegeben.
Wenn die Wirkung der Musik auf Völker niederer Kulturstufe, sowie
auf einzelne naive Menschen vielfach pathologischer Natur ist und
in wilden Tänzen oder ungezügelten Bewegungen zum Ausdruck
drängt, so hat der höher Gebildete der Neuzeit das Bedürfnis, seine
durch Sinnesreize hervorgerufenen Erregungen zu vergeistigen. Um
seine durch die Töne geweckten Gefühle sich selbst und anderen be-
rechtigt erscheinen zu lassen, verknüpft er sie mit außermusikalischen
Vorstellungen. Die Tätigkeit der Phantasie vermindert die Spannung
des Gemüts und führt einen Ausgleich herbei2).

Es läßt sich nun verstehen, warum die Einbildungskraft nicht durch
alle absolute Musik in Bewegung gesetzt wird, und selbst unter Kompo-
nisten ersten Ranges die Werke des einen ungleich mehr zu Deu-
tungen herausfordern als die des anderen. Die Gefühlswirkung ist
sowohl der Qualität wie dem Grade nach eine verschiedene. So übt

*) Aus den »Annalen des Fortschritts« Bd. 4 der Ges. Schriften. Deutsch von
L. Ramann.

2) H. Swoboda sagt in seinem Aufsatze »Verstehen und Begreifen«: »Da aber
Gefühle, welcher Art auch immer, als Abweichung vom Indifferenzpunkt empfunden
werden und ihre Abschwächung angestrebt wird, so wird die Gefühlserregung vom
ursprünglichen Gebiet auf andere absichtlich übergeleitet oder geht von selbst über
je nach den Umständen. Man kann an die Flüssigkeit in einem Gefäß denken,
deren Niveau dadurch sinkt, daß man das Gefäß mit anderen kommunizierenden
verbindet.« (Vierteljahrsschrift für wissenschaftl. Philos. Jahrg. 27, S. 161.)
 
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