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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 6.1911

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Hohenemser, Richard: Wendet sich die Plastik an den Tastsinn?
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https://doi.org/10.11588/diglit.3675#0425
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WENDET SICH DIE PLASTIK AN DEN TASTSINN? 419

der Anlaß, die zum Verständnis plastischer Kunstwerke nötigen Tast-
erfahrungen zu sammeln. Genau so verhält es sich beim Blinden.
Da er das Innenleben seiner Mitmenschen mittels des Gehöres erfaßt,
werden auch ihm die betasteten Körperformen nicht zu Ausdrucks-
formen, und darum vermag auch er nicht von der sinnlichen Natur
der Tastempfindungen zu abstrahieren. Ja, da ihm der Tastsinn Mittel
zum Erkennen der körperlichen Wirklichkeit ist, wird er gerade für
die Eigenschaften des betasteten Materials besonders empfindlich sein.
Gerade umgekehrt wie Helen Keller wird der Blinde sofort bemerken,
ob die ihm gereichte Hand trocken oder feucht ist, und im letzteren
Falle wird er mit einem intensiven Unlustgefühl reagieren. So wird
ihm die Kälte des Marmors vielleicht unangenehm, seine Glätte an-
genehm sein. Aber ein ästhetischer Genuß ist unter solchen Um-
ständen ausgeschlossen. Nur wenn die Bedingungen so liegen, daß
ein Mensch veranlaßt ist, das Innenleben seiner Mitmenschen aus dem
Betasten ihrer Körperformen zu erschließen, wird es auch gelingen,
von der sinnlichen Natur der Tastempfindungen zu abstrahieren und den
Gehalt eines lebenden Menschen oder einer Statue, soweit er sich in
den Körperformen ausspricht, künstlerisch zu genießen. Voraussetzung
hierzu ist die Fähigkeit, die eigene innere Tätigkeit in das Objekt ein-
zufühlen. Aber diese Voraussetzung trifft im Prinzip für den Tastsinn
ebenso zu wie für den Gesichtssinn.

Und nun noch eine methodologische Bemerkung: Die auf den
ersten Blick merkwürdige Tatsache, daß die taubblinde Helen Keller,
was den Genuß der Plastik betrifft, dem Vollsinnigen näher steht als
dem Blinden, ist geeignet, uns der psychologischen Massenbeobach-
tung gegenüber mißtrauisch zu machen. Eine Umfrage sowohl unter
Sehenden als auch unter Blinden über den ästhetischen Wert des
Tastsinnes würde voraussichtlich nur negative Resultate ergeben, wäh-
rend uns der einzige Fall Helen Kellers beweist, daß der Tastsinn
auch wirklichen ästhetischen Wert besitzen kann. Hier liegen einfach
die Bedingungen besonders günstig; denn es ergibt sich kein innerer
Widerspruch zu dem Verhalten der Vollsinnigen und der Blinden,
d. h. die uns bekannten psychologischen Gesetze lassen uns nirgends
im Stich. Die Massenbeobachtung wird in der Regel nichts anderes
lehren als die Selbstbeobachtung, da diese ja gewöhnlich mit der Be-
obachtung des Durchschnittsmenschen zusammenfällt. Das Heil der
psychologischen Wissenschaften, also auch der Ästhetik, wird in erster
Linie auf der Selbstbeobachtung und auf der Beobachtung anormaler
Fälle beruhen, d. h. solcher Fälle, in welchen die im Durchschnitt ge-
gebenen Bedingungen abgeändert sind.
 
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