84 WILHELM BÖRNER.
falls die soziale Auffassung den Tatsachen entspricht, eine Kunsttheorie
erst entstanden ist, nachdem die Kunstproduktion individuell geworden
war; und es müßte daher die Zeit, in der die Kunst eine rein soziale
Funktion gewesen, sehr weit zurückliegend angenommen werden.
Denn bereits in der mythologischen Epoche der menschlichen Geistes-
entwicklung — wenn auch freilich erst in einem vorgeschrittenen
Stadium derselben — sind Lehren über den Künstler anzutreffen.
Der Ursprung der Mythologie, die in gewissem Sinne den gemein-
samen Ausgangspunkt für Religion, Philosophie und Wissenschaft
bildet, ist in der personifizierenden Apperzeption1) gelegen, die darin
besteht, daß der Mensch, entsprechend dem Verhältnis von Willens-
tätigkeit und Bewegung, dem einzigen Kausalverhältnis, das er »aus
unmittelbarer, innerer täglich und stündlich erneuter Erfahrung kennt2),«
alle sich darbietenden Ereignisse deutet. Diese »einlebende« Tätigkeit
der Phantasie bildet den Anfang der Mythologie. Erst auf einer
höheren Stufe kommt es dann zu einer Trennung zwischen dem »ein-
gelebten«, projizierten Wesen und dem Objekt, an dem sich das Ein-
leben äußert, und erst in diesem Stadium ist die eigentliche Personi-
fikation und damit die Mythologie im engeren Sinne vorhanden. Auf
dieser Entwicklungsstufe der Mythologie tauchen im abendländischen
Denken auch die ersten Erklärungsversuche für die mit dem Künstler
im Zusammenhange stehenden Probleme auf. Wenn Zimmermann3)
die Ästhetik erst mit Plato beginnen läßt und meint: »Was bis auf
Jena 1899, S. 508 ff.; Die Anfänge der Kunst und die Theorie Darwins (Sonder-
abdruck aus den »Hessischen Blättern für Volkskunde«, III. Bd., 2. und 3. Heft),
S. 16. — Stark heben das soziale Moment auch hervor: Ernst Grosse, Die Anfänge
der Kunst, Freiberg 1894 (siehe besonders einerseits S. 48, 293, anderseits die ein-
schränkenden Bemerkungen S. 196 f., 263), Yrjö Hirn, The Origins of Art, London
1900, auch deutsch: Der Ursprung der Kunst. Eine Untersuchung ihrer psychischen
und sozialen Ursachen, Leipzig 1904, besonders die Kapitel 1, 5, 7, 17; Emil Reich,
Kunst und Moral. Eine ästhetische Untersuchung, Wien 1901, S. 20 ff., 244 f; Max
Verworn, Zur Psychologie der primitiven Kunst, Jena 1908, S. 40 und Die Anfänge
der Kunst, Jena 1909, S. 58.
') Zu diesen Ausführungen über Mythologie im allgemeinen vergleiche man
Wundt, Völkerpsychologie II. Bd.: Mythus und Religion 1. Teil, Leipzig 1905,
3. Kapitel, 2. Abschnitt; ferner M. Kronenberg, Geschichte des deutschen Idealismus
I. Bd., München 1909, S. 5 f.
!) Theodor Gomperz, Griechische Denker I. Bd., 2. Aufl., Leipzig 1903, S. 13.
s) Ästhetik, I.Teil, Geschichte der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft,
Wien 1858, S. 3. — Ähnlich verhält sich auch Bernard Bosanquet, der über die Zeit
vor Sokrates mit einer knappen Seite hinweghuscht und auch die Vorgänger Piatos nur
ganz oberflächlich behandelt. (A History of Aesthetic, 2. ed., London 1904, S. 43 ff.)
Ebenso läßt William Knight (The Philosophy of the Beautiful being Oullines of the
History of Aesthetics, London 1903) die Vorsokratiker gänzlich unberücksichtigt und
setzt erst mit Sokrates ein (S. 22 ff.).
falls die soziale Auffassung den Tatsachen entspricht, eine Kunsttheorie
erst entstanden ist, nachdem die Kunstproduktion individuell geworden
war; und es müßte daher die Zeit, in der die Kunst eine rein soziale
Funktion gewesen, sehr weit zurückliegend angenommen werden.
Denn bereits in der mythologischen Epoche der menschlichen Geistes-
entwicklung — wenn auch freilich erst in einem vorgeschrittenen
Stadium derselben — sind Lehren über den Künstler anzutreffen.
Der Ursprung der Mythologie, die in gewissem Sinne den gemein-
samen Ausgangspunkt für Religion, Philosophie und Wissenschaft
bildet, ist in der personifizierenden Apperzeption1) gelegen, die darin
besteht, daß der Mensch, entsprechend dem Verhältnis von Willens-
tätigkeit und Bewegung, dem einzigen Kausalverhältnis, das er »aus
unmittelbarer, innerer täglich und stündlich erneuter Erfahrung kennt2),«
alle sich darbietenden Ereignisse deutet. Diese »einlebende« Tätigkeit
der Phantasie bildet den Anfang der Mythologie. Erst auf einer
höheren Stufe kommt es dann zu einer Trennung zwischen dem »ein-
gelebten«, projizierten Wesen und dem Objekt, an dem sich das Ein-
leben äußert, und erst in diesem Stadium ist die eigentliche Personi-
fikation und damit die Mythologie im engeren Sinne vorhanden. Auf
dieser Entwicklungsstufe der Mythologie tauchen im abendländischen
Denken auch die ersten Erklärungsversuche für die mit dem Künstler
im Zusammenhange stehenden Probleme auf. Wenn Zimmermann3)
die Ästhetik erst mit Plato beginnen läßt und meint: »Was bis auf
Jena 1899, S. 508 ff.; Die Anfänge der Kunst und die Theorie Darwins (Sonder-
abdruck aus den »Hessischen Blättern für Volkskunde«, III. Bd., 2. und 3. Heft),
S. 16. — Stark heben das soziale Moment auch hervor: Ernst Grosse, Die Anfänge
der Kunst, Freiberg 1894 (siehe besonders einerseits S. 48, 293, anderseits die ein-
schränkenden Bemerkungen S. 196 f., 263), Yrjö Hirn, The Origins of Art, London
1900, auch deutsch: Der Ursprung der Kunst. Eine Untersuchung ihrer psychischen
und sozialen Ursachen, Leipzig 1904, besonders die Kapitel 1, 5, 7, 17; Emil Reich,
Kunst und Moral. Eine ästhetische Untersuchung, Wien 1901, S. 20 ff., 244 f; Max
Verworn, Zur Psychologie der primitiven Kunst, Jena 1908, S. 40 und Die Anfänge
der Kunst, Jena 1909, S. 58.
') Zu diesen Ausführungen über Mythologie im allgemeinen vergleiche man
Wundt, Völkerpsychologie II. Bd.: Mythus und Religion 1. Teil, Leipzig 1905,
3. Kapitel, 2. Abschnitt; ferner M. Kronenberg, Geschichte des deutschen Idealismus
I. Bd., München 1909, S. 5 f.
!) Theodor Gomperz, Griechische Denker I. Bd., 2. Aufl., Leipzig 1903, S. 13.
s) Ästhetik, I.Teil, Geschichte der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft,
Wien 1858, S. 3. — Ähnlich verhält sich auch Bernard Bosanquet, der über die Zeit
vor Sokrates mit einer knappen Seite hinweghuscht und auch die Vorgänger Piatos nur
ganz oberflächlich behandelt. (A History of Aesthetic, 2. ed., London 1904, S. 43 ff.)
Ebenso läßt William Knight (The Philosophy of the Beautiful being Oullines of the
History of Aesthetics, London 1903) die Vorsokratiker gänzlich unberücksichtigt und
setzt erst mit Sokrates ein (S. 22 ff.).