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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0155
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BESPRECHUNGEN. 151

das positive Wirken auf die jungen Seelen von innen aus. Es gilt, das heran-
wachsende Geschlecht zu künstlerisch geläutertem Fühlen und Urteilen, zu beson-
nener Kritik in Sachen des Geschmacks zu führen, damit es nicht von jeder durch
neue Reize, durch Gewagtheit und Keckheit bestechenden Erscheinung gefangen
genommen werde. Vor allem muß die Jugend zwischen Sinnenreiz und künstle-
rischem Wert unterscheiden lernen. Letzten Endes aber kommt es auf Gemüts-
und Charakterbildung an. Es muß darauf hingewirkt werden, daß in dem jungen
Herzen Abscheu vor allem Schmutz, vor aller Herabwürdigung zum Tierischen
Wurzel fasse, daß es von Sehnsucht nach adligen, heroischen Gefühlen erfüllt
werde, daß es seine Ehre darein setze, ein wohlgeordnetes, vernunftgeklärtes Trieb-
leben zu besitzen und Selbstüberwindung zu üben. So wird die beste Gewähr
dafür geschaffen, daß der heranwachsende junge Mensch allen schlimmen Ein-
flüssen, die von der Kunst ausgehen, gewachsen ist.

Will sich der Erzieher die Gefährdungen vor Augen halten, die dem sittlichen
Leben von der gegenwärtigen Kunstentwicklung drohen, so wird sich sein Blick
vor allem auf das geschlechtliche Gebiet richten, denn die erotische Vergiftung
zeigt in unseren Tagen ein höchst bedenkliches Wachstum. Aber nicht nur die
Zahl der dem Aufreizen des Geschlechtslebens dienenden Künstler und künstleri-
schen Erzeugnisse ist in den letzten Jahrzehnten ungeheuer angeschwollen; sondern
es hat auch die Aufdringlichkeit und Handgreiflichkeit in der Darstellung wol-
lüstiger Vorgänge in augenfälliger Weise zugenommen; und Hand in Hand damit
geht die Steigerung des Krankhaften in der Erotik. Auch auf wissenschaftlichem
oder richtiger gesagt: halbwissenschaftlichem Gebiete macht sich in unserer Zeit
etwas von jener Sucht bemerkbar, an dem »Sexuellen« neugierig herumzuschnüffeln.
Zweifellos haben Forscher, zu deren wissenschaftlichem Arbeitsgebiet das Ge-
schlechtsleben gehört, die Pflicht, sich mit allen sexuellen Unarten und Entartungen
eingehend zu beschäftigen; und dasselbe gilt von allen, die durch ihre praktische
Tätigkeit, etwa durch ihr Wirken auf sexualem Gebiet, dazu geführt werden, den
Erscheinungen des Geschlechtstriebes ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Dagegen
ist nicht einzusehen, warum Männer und Frauen, deren theoretisches oder prak-
tisches Arbeitsfeld nichts mit dem Sexuellen zu tun hat, es für ihre Bildung als
notwendig erachten sollten, sich in alle Besonderheiten und Einzelheiten der ge-
schlechtlichen Perversitäten einweihen zu lassen. Man kann von der Macht des
Geschlechtstriebes, von den aus ihm für Jugend, Sitte und Kultur stammenden
Gefahren, von den Abgründen der geschlechtlichen Ausschweifung eine für Leben
und Wirken vollkommen ausreichend-deutliche Vorstellung haben und braucht
darum noch nicht über alle Arten, Unter- und Nebenarten des geschlechtlichen
Unrats bis in seine seltensten »Spezialitäten« hinein genau unterrichtet zu sein.
Und wenn man Kinder zu erziehen hat, kann man den erwachenden Geschlechts-
trieb durch Aufklären, Vorbeugen und Veredeln mit klugem Überlegen und feinstem
Takt behandeln, ohne daß man Krafft-Ebing oder Forel studiert haben müßte.

Auch auf der Bühne macht sich die Erotik in ihren abstoßendsten und wider-
wärtigsten Formen übermäßig viel zu schaffen, und unsere Theaterverhältnisse
würden nur dann in die richtige Bahn gelenkt werden können, wenn eine reinliche
Scheidung einträte zwischen solchen Theatern, die der Zerstreuung, Belustigung
und Aufregung dienen sollen, und den davon grundverschiedenen Bühnen, die nichts
als Stätten der Kunst sein wollen. Der Staat wie die Gemeinden großer Städte
müßten es als eine Pflicht betrachten, rein der Kunst geweihte Bühnen zu gründen,
Bühnen, die ebenso von den Kassenberechnungen des auf seinen Privatvorteil be-
dachten Direktors völlig unabhängig wären wie von den widerkünstlerischen Ge-
 
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