DER ZWECK DER KUNST. 185
Verschiebung der Gesichtspunkte Freude hat, dem soll das unbenom-
men bleiben. Der Ästhetiker hat kein Interesse daran, seine Wissen-
schaft mit der Theologie, Ethik oder Sozialpolitik vermengt zu sehen.
Dazu kommt noch ein weiteres. Wenn der Zweck der Kunst
in der Tendenz bestände, so sollte man denken, daß diese auch ihren
Wert steigern müßte. Ist das aber wirklich der Fall? Nehmen wir
einmal eine besonders ehrwürdige Tendenz, die religiöse. Verleiht
die Bedeutung des religiösen Zweckes wirklich der Kunst einen be-
sonderen Wert? Keineswegs. Es hat zwar zu allen Zeiten gute reli-
giöse Kunstwerke gegeben. Aber anderseits ist es eine Tatsache, daß
die Zahl der minderwertigen Erzeugnisse auf diesem Gebiete ganz be-
sonders groß ist. Der Grund dafür ist auch leicht einzusehen. Je
höher bei einem Kunstwerk der Inhalt an sich eingeschätzt wird, je
mehr man geneigt ist, schon seine Wahl dem Künstler zum Verdienst
anzurechnen, um so mehr wird dieser sich die formale Durcharbeitung
des Problems ersparen, schließlich überhaupt keine formalen Probleme
mehr lösen. Es tritt also hier das Gegenteil von dem ein, was wir
bei der einseitigen Betonung der Form beobachteten. Hatten wir es
dort mit einer Verkümmerung des Inhalts zugunsten der Form zu
tun, so handelt es sich hier um eine Verkümmerung der Form zu-
gunsten des Inhalts.
So können wir uns denn auch nicht wundern, daß die Kirche, die
die Kunst im Sinne einer solchen Tendenz benutzt, d. h. sie in den
Dienst kirchlicher Interessen stellt, sich häufig entweder mit kon-
ventionellen, abgegriffenen Formen begnügt, die ihrem konservativen
Charakter entsprechen, oder eine Neigung hat, unbedeutende und tem-
peramentlose Künstler zu überschätzen, wenn es ihnen nur gelingt,
mit ihrer stilistisch unentwickelten Formensprache irgend einen der
Gemeinde teuren Bibelinhalt schlecht und recht zu illustrieren.
ich wende mich nun zu der zweiten Zwecktheorie, die ich selbst
Vorjahren entwickelt habe. Das ist die Ergänzungstheorie. Nach
ihr besteht der Zweck der Kunst in der Ergänzung unseres Ge-
fühlslebens. Dabei muß man davon ausgehen, daß der Mensch das
Bedürfnis hat, Gefühle zu erleben. Es ist nun eine Tatsache, daß das
Leben uns die Gelegenheit, bedeutende Gefühle zu erleben, nur selten
bietet. Große Taten und erhabene Gefühle sind nicht auf der Straße zu
finden. Aber auch das ganz Schlechte entzieht sich meistens unseren
Blicken. Wir sind in unserem heutigen Kulturstaat durch Gesetz und
Recht, Sitte und Scham so sehr eingeschränkt, daß wir gewisse Dinge
nur selten zu sehen bekommen und demgemäß auch die damit ver-
bundenen Gefühle nur selten erleben können. Ich erinnere nur an das
Nackte, die Sünde und das Verbrechen. Es ist kein Zufall,
Verschiebung der Gesichtspunkte Freude hat, dem soll das unbenom-
men bleiben. Der Ästhetiker hat kein Interesse daran, seine Wissen-
schaft mit der Theologie, Ethik oder Sozialpolitik vermengt zu sehen.
Dazu kommt noch ein weiteres. Wenn der Zweck der Kunst
in der Tendenz bestände, so sollte man denken, daß diese auch ihren
Wert steigern müßte. Ist das aber wirklich der Fall? Nehmen wir
einmal eine besonders ehrwürdige Tendenz, die religiöse. Verleiht
die Bedeutung des religiösen Zweckes wirklich der Kunst einen be-
sonderen Wert? Keineswegs. Es hat zwar zu allen Zeiten gute reli-
giöse Kunstwerke gegeben. Aber anderseits ist es eine Tatsache, daß
die Zahl der minderwertigen Erzeugnisse auf diesem Gebiete ganz be-
sonders groß ist. Der Grund dafür ist auch leicht einzusehen. Je
höher bei einem Kunstwerk der Inhalt an sich eingeschätzt wird, je
mehr man geneigt ist, schon seine Wahl dem Künstler zum Verdienst
anzurechnen, um so mehr wird dieser sich die formale Durcharbeitung
des Problems ersparen, schließlich überhaupt keine formalen Probleme
mehr lösen. Es tritt also hier das Gegenteil von dem ein, was wir
bei der einseitigen Betonung der Form beobachteten. Hatten wir es
dort mit einer Verkümmerung des Inhalts zugunsten der Form zu
tun, so handelt es sich hier um eine Verkümmerung der Form zu-
gunsten des Inhalts.
So können wir uns denn auch nicht wundern, daß die Kirche, die
die Kunst im Sinne einer solchen Tendenz benutzt, d. h. sie in den
Dienst kirchlicher Interessen stellt, sich häufig entweder mit kon-
ventionellen, abgegriffenen Formen begnügt, die ihrem konservativen
Charakter entsprechen, oder eine Neigung hat, unbedeutende und tem-
peramentlose Künstler zu überschätzen, wenn es ihnen nur gelingt,
mit ihrer stilistisch unentwickelten Formensprache irgend einen der
Gemeinde teuren Bibelinhalt schlecht und recht zu illustrieren.
ich wende mich nun zu der zweiten Zwecktheorie, die ich selbst
Vorjahren entwickelt habe. Das ist die Ergänzungstheorie. Nach
ihr besteht der Zweck der Kunst in der Ergänzung unseres Ge-
fühlslebens. Dabei muß man davon ausgehen, daß der Mensch das
Bedürfnis hat, Gefühle zu erleben. Es ist nun eine Tatsache, daß das
Leben uns die Gelegenheit, bedeutende Gefühle zu erleben, nur selten
bietet. Große Taten und erhabene Gefühle sind nicht auf der Straße zu
finden. Aber auch das ganz Schlechte entzieht sich meistens unseren
Blicken. Wir sind in unserem heutigen Kulturstaat durch Gesetz und
Recht, Sitte und Scham so sehr eingeschränkt, daß wir gewisse Dinge
nur selten zu sehen bekommen und demgemäß auch die damit ver-
bundenen Gefühle nur selten erleben können. Ich erinnere nur an das
Nackte, die Sünde und das Verbrechen. Es ist kein Zufall,