Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0317
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BESPRECHUNGEN. 3 ] 3

dergleichen mehr. Da vermag die Kunst viel, gerade solche »kämpfenden Wichte«
in unserem Herzen und Hirn vermag sie zu besiegen und Zustände eines zer-
rissenen Innern zu heilen durch ihre Harmonien, nicht bloß zu lindern. Vom Ein-
ochsten an: Der einfache volle Ton einer Kirchenglocke oder Standuhr vermag als
Ton das ganze innere Wesen zu sammeln, das Desorganisierte zu organisieren,
vermag eine fast physische Kraft zu geben, schon — um bei ganz Simplem zu
bleiben — durch die wohltätige Wirkung auf müde und vielspältig angestrengte
Nerven. Der einzige Ton einer Lampenglocke, die man aufsetzt und die dabei
fein und milde klingt, kann einem, der sich innerlich zerschlagen und verzerrt fühlt,
lm Moment merklich Lust zur Arbeit geben. Zugestanden, das will erlebt sein,
aber es wird erlebt. Und etwas höher hinauf, nicht mehr bloß einzelne Töne: Er-
schüttern kann die Musik, mit ein paar Takten bis zu Tränen, aber heilen nicht?
öie tut sogar in pathologischen Fällen gute und ernstlich brauchbare Dienste (König
T*ü] ließ den jungen David mit der Harfe kommen, wenn der böse Geist vom
Herrn ihn unruhig machte, »so erquickte sich Saul und ward besser mit ihm und
er böse Geist wich von ihm«). Oder ein anderes Gebiet: Eine Zimmereinrichtung
SC on kann ethisch läutern und Hemmungen ausüben; ich dächte, das wüßten wir
"Un Iangst. Und ein Hodlersches Bäumchen kann Moral predigen ohne Worte
n °hne zu gestikulieren, gerade durch seine ehrliche Schlichtheit, daß man vor
cnem unscheinbaren Gestrüpp, das sich da mühsam, aber zähe und ehrlich bis
s h" Faser aus dem kargen Boden ringt, das Gefühl bekommt, man müßte sich
amen vor dem Bäumchen da und dem, der's gemacht hat, wenn man nicht seine
'gene Arbeit, so gut man eben kann, mit ebensolcher Anspannung verrichtet. Zu-
gestanden, hierzu gehört Empfänglichkeit, aber die gibt es ja doch'). Zugestanden
. ' urn nun solche Fälle zu nehmen, wo die Kunst durch höhere geistige Wir-
ungen Ordnung schaffen kann im Chaos einer Menschenbrust, zugestanden also,
aß 'ntellektuelle Skepsis von der Kunst nicht besiegt werden kann, diese Ge-
|ete sind sich zu fremd. Aber moralische Skepsis kann von ihr besiegt werden,
n;cnt bloß gelindert; denn Linderung gibt es in Zuständen gesteigerter Skepsis gar
mcnt> sondern nur ein Herausreißen durch plötzliche Umwandlung oder Begeiste-
rung; und das vermag die Beethovensche Sinfonie! Da lernt man glauben an ein
jpch der Werte, wie ich's vorhin andeutete, da fühlt man im Verständnis des
Kunstlers die Bedeutung des Goetheschen Wortes, daß eine höchste Aufgabe großer
anner die sei, ein Vorbild zu werden; da wird man körperlich umgestimmt, geht
juan mit anderem Schritt hinaus aus dem Saal als wie man herkam. Kunst ist
Rettung, in ihren höchsten Wohltaten. Hier liegen die höchsten Leistungen
oethes, des positivsten (um Gottes willen nicht etwa positivistischsten) aller Men-
c en, der in einem höheren, aber gar nicht luxushaften Sinn vielen Bedürftigen
as Leben gerettet hat, den Mut, den Glauben an ein geistiges Leben und seinen
ert, den Glauben, ganz allgemein gesprochen, an den Sinn des Positiven und den
Unsinn des Negativen. Und abgesehen von solchen Fällen inneren Verrenktseins
ann die Kunst — es sind das immer Nebenwirkungen von ihr — auch schwere
sogenannte Schicksalsschläge überwinden helfen; sie kann in der Tragödie größeres
Unheil zeigen und so das eigene des Zuschauers kleiner machen oder kann, was

') Wenn die Kunst, etwa Theaterstücke mit reichlich viel »poetischer Gerechtig-
eit« und wo die ganze »sittliche Weltordnung« zutage tritt, nicht gleich die Krimi-
nalstatistik günstig beeinflußt, so ist ja hier auch nicht gemeint, daß der Theater-
esuch mit den Wirkungen des Zuchthauses konkurrieren solle, die übrigens in der
Kriminalstatistik selber einen zweifelhaften Posten ausmachen.
 
Annotationen