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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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Baumgarten, Franz F.: Die Lyrik Conrad Ferdinand Meyers
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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0394
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390 FRANZ BAUMGARTEN.

ausgegangen sein! Wenn man bedenkt, daß Meyer allein für die
3. Auflage des Hütten, der in 5 stark veränderten Auflagen im Druck
erschienen ist, einen Abschnitt zehnmal umgearbeitet hat, und hinzu-
nimmt, daß der Hütten lange nicht so stark umgearbeitet und nicht
so vollendet wurde wie die Gedichte, so kann man sich eine Vor-
stellung davon machen, welche Arbeit und welche Qual die Umfor-
mung der Gedichte gekostet haben muß. Der großartige Wert dieser
Arbeit ist, daß sie den Gedichten — abgesehen von einigen wenigen,
übrigens von Anfang an prinzipiell verfehlten Gedichten — auch wirk-
lich die notwendige Form gegeben. Man versteht die ersten Fassungen
erst, wenn man die letzten zur Erklärung vergleichend herbeizieht: erst
dort springt heraus, was der Dichter eigentlich sagen wollte.

Nicht auf seiner erregbaren, aber nicht leidenschaftlich-großen Per-
sönlichkeit, nicht auf seinen Menschengestalten, hinter deren heroi-
scher Attitüde sich die Schwäche verbirgt, sondern auf dem heiligen
Ernst und auf der rastlosen Arbeit des Künstlers beruht Meyers Be-
deutung: ihn bezeichnet die ernste Größe des Künstlers, der alles,
auch sich selbst der Vollendung des Werkes opfert. Er litt an der
Krankheit der Vollendung.

Während der Umarbeitung, durch die Umarbeitung der Gedichte
hat Meyer die neue Form der Lyrik gefunden: in der Folge der ver-
schiedenen Fassungen der Gedichte vollzieht sich die Wandlung von
der volksliedartigen Erlebnislyrik zur symbolistischen und plastischen
Lyrik. Man hat die verschiedenen Fassungen der Gedichte mehrfach
und sehr eingehend untersucht; über mehr oder minder wichtige Einzel-
heiten, über Änderungen, die nur stilistisch und nur vom Standpunkt
der formalen Komposition wichtig sind, hat man den prinzipiellen
Unterschied zwischen den lyrischen Gedichten der Sammlung »Ro-
manzen und Bilder« und der Sammlung »Gedichte« übersehen: man
hat die Verschiedenheit des Stilisierungsprinzips, die Verschiedenheit
der lyrischen Form nicht bemerkt.

Meyers lyrische Form, wie wir sie früher aus der endgültigen
Fassung der Gedichte abstrahierten, läßt sich in ihrem Entstehen ver-
folgen durch Nebeneinanderstellung der Fassungen, durch welche die
Gedichte gegangen. Ich wähle die besten Beispiele, die nicht auch
die besten Gedichte sein können.

In einem frühen Gedichte (Der Erntewagen) feierte der Dichter die
Erlösung durch die Arbeit, die ihm, dem Heimatlosen und Ruhelosen,
Heimat und Ruhe gegeben. Das empirische Erlebnis, die Begegnung
mit einem Erntewagen, der den sehnsüchtig in die Ferne Schweifen-
den zur Einsicht des Ernteglücks seiner Arbeit bringt, ist die Form
des Gedichtes. In der zweiten Fassung dieses Gedichtes ist nun die
 
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