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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0666
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662 BESPRECHUNGEN.

läßt der Persönlichkeit des Dichters eigentlich gar keinen Raum. Alles, was er mit
sehr feiner Beobachtung aus Kleists Technik vorstellt, soll schlechterdings aus
dessen Absicht und ihrer vollkommenen Durchführung herfließen. Wenn z. B. Kleist
eine Abneigung gegen die Sentenz zeigt, während diese doch nicht zufällig von
allen anderen großen Dramatikern geliebt wurde (von Schiller freilich ganz gewiß im
Übermaß!), so dürfen darin nur »gedankenlose Leser« Mangel an Gedanken sehen,
»weil er diese nicht in abstrakter Allgemeinheit präsentiert, sondern restlos in die
dichterische Gestaltung eingehen läßt« (S. 116). Das Schelten auf den wirklichen
oder präsumptiven Gegner, das Meyer-Benfey überhaupt sehr liebt (und S. 467
selbst gegen Goethe bis zur Grobheit übt), ist hier wie oft nur ein Zeichen innerer
Schwäche. Denn wenn wir selbst nicht fragen wollen, wie die spätere Betrachtung
(S. 613), Kleists Muse wisse von allem Theoretisieren und Spekulieren nichts, sich
etwa mit der sehr spekulativen Auffassung verträgt, die der Verfasser (S. 503,
vgl. aber S. 536) in die »Penthesilea« legt, so bleibt doch immer unklar, wie allge-
meine Beobachtungen »restlos in die dichterische Gestaltung eingehen können«.
Wenn z. B. Thoas sagt:

Man spricht vergebens viel, um zu versagen —
Der andre hört von allem nur das Nein,

so liegt diese Empfindung gewiß schon in seiner Situation; wenn die aber genügte,
so wäre eben alles Sprechen ein Überfluß und die Pantomime schon zu viel. Das
Drama drängt zum Typus, der Typus drängt zu seiner Selbstverkündigung; und
daß Kleists Helden immer in ihrer Individualität so eng befangen bleiben, daß sie
das erlösende Wort nicht finden, das trägt eben zu jenem beängstigenden Gefühl
bei, durch das Kleists frühere Dramen — wenn ich mein Urteil gegen das seine
setzen darf — an Schönheit die des Sophokles, oder Goethes, an befreiender Kraft
die Shakespeares nicht erreichen. Und so hat denn Kleist in der »Hermannsschlacht«
und vor allem im »Prinzen von Homburg« seine Gestalten ruhig auch Sentenzen
aussprechen lassen; was der Verfasser des zweiten Bandes nicht ohne einige advo-
katorische Kunst (wie wir sie hier z. B. S. 454, 578, 602 finden) gegen den des
ersten wird rechtfertigen können.

Ähnlich steht es in einem anderen Punkte. Wir sind gewöhnt, in Goethe
gerade die tiefe Durchdringung und Einfühlung mit persönlichstem Gehalt zu be-
wundern. Weil nun aber Kleist angeblich (S. 618) »kein Material für seine mensch-
liche Biographie« gibt (S. 618), so soll er als der objektivste unserer Dichter am
höchsten stehn. Wieder ist zunächst über die quaesüo facti zu streiten. Wenn
nämlich Meyer-Benfey in seiner emersonischen Auffassung Kleists als »des Drama-
tikers« ihm zunächst gar nicht gestattet, eine Individualität zu sein, wenn er sogar
die eigentümlichsten Manieren seiner Sprechweise aus kluger Absicht erklärt wie
die Wortspiele im »Zerbrochenen Krug« (S. 476), so kommt schließlich die Persön-
lichkeit unerwartet wieder zum Vorschein, indem nicht nur Penthesilea (S. 599),
was sich noch einigermaßen verteidigen läßt, sondern gar — Eve im »Zerbrochenen
Krug« (S. 493) und Ottokar in der »Familie Schroffenstein« (S. 149) Kleist selbst
sein soll. Diese Sucht, in den Einzelgestalten Kleist zu finden statt in der Stim-
mung seiner Dramen die seine, würde denn wohl die »Objektivität« ganz aufheben;
und was wäre wohl für die menschliche Biographie eines Dichters wichtiger als
ein solches Selbstporträt, das ihn in ganz bestimmten Stellungen der Zeit gegen-
über zeigt? »So hat Kleist in Evens Art und Situation sein eigenstes Erleben und
Empfinden verkörpert; seine schmerzlichsten Erfahrungen, ja eigentlich die ganze
entsetzliche Tragik seines Lebens liegt in dieser Gestalt« (S. 493). Wenn das so
 
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