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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 7.1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.3592#0667
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BESPRECHUNGEN

sicher wäre, wie es uns seltsam scheint — was unterschiede denn dann die Keusch-
heit und Objektivität Kleists von der Goethes oder Grillparzers ? Und wie weit
bliebe sie dann hinter der Schillers zurück!

Nun ist aber die Behauptung, daß Objektivität an sich schon höhere Kunst
bedeute, für den Dramatiker ebenso schwer zu beweisen wie für den Epiker, und
die stärksten Dramen unserer Bühne sind voll subjektiver Empfindung und voll
biographischer Hintergründe: »Nathan« wie »Faust« und »Die Jüdin von Toledo«
wie — »Die Hermannsschlacht«. Meyer-Benfey tut also auch hier aus Übereifer
seinem Helden unrecht; wie er ihn denn wirklich gelegentlich, gleich Penthesileen,
vor lauter Liebe zernichtet.

Überall kommt hier die zweite These der ersten ins Gehege. Kleist soll überall
größer sein als alle. So wird höchst unbillig sogar das Fragment »Guiskard« und
gerade dies als formvollendetes Meisterwerk gegen Goethes Fragmente ausgespielt;
als ob wir bei einem Drama, dessen Katastrophe uns nicht erhalten ist, bei aller
Bewunderung der Pracht des Erhaltenen die Kunstform des Ganzen überhaupt
rühmen dürften!

Um dieser Vereinzelung willen empört sich Meyer-Benfey auch besonders gegen
die »grundlose und haltlose Legende« (S. 611), Kleist sei Romantiker. Er macht
sich's dabei etwas leicht; wie das im einzelnen höchst schätzbare Buch denn über-
haupt zu denen gehört, die der Gründlichkeit im kleinen wohl einige Oberfläch-
lichkeit im großen beigesellen zu dürfen meinen. Das gilt z. B. von der Beurtei-
lung Molieres (S. 319) oder von der Manier, wie in dem Fortlassen der Akteintei-
lung (S. 463) die »Vollendung der dramatischen Form« gesehen wird — so daß
auch hier der Dichter der späteren Dramen gegen den zu unbedingten Lobredner
der früheren wird Schutz erbitten müssen. Wie ausgezeichnet ist die dramaturgische
Analyse des »Zerbrochenen Krugs«! Wie ungenügend die philosophisch-religiöse des
»Amphitryon«! So werden denn auch bei der — an sich gar nicht so aufregenden —
Frage, ob Kleist zu den Romantikern gehöre, in aller Eile ein paar Kennzeichen
aufgerafft, die ihm dann abgestritten werden. Jener Grundgedanke selbst, Sopho-
kles und Shakespeare bewußt zu vereinigen, wäre durchaus romantisch, und was
Kleist in den »Amphitryon« — der freilich Meyer-Benfey offenbar am wenigsten
sympathisch ist — neu hineinschuf, ist romantische Philosophie und romantisches
Spiel mit dem Spiel. Daß aber Kleist nicht nur Romantiker ist, das wissen wir
denn doch schon längst, wie auch der Verfasser nicht leugnet.

Ich muß also gestehen, daß ich für das Verständnis der Persönlichkeit, des
Genius, nicht allzu viel Förderung empfinde; sehr viel aber für das Verständnis
seiner Kunstabsichten und ihrer technischen Durchführung. Ich glaube, daß eine
gleich überzeugte und liebevolle Interpretation für Schillers Drama zu ähnlichen
Superlativen gelangen könnte, und bin allerdings der Meinung, daß sein Drama
an nationaler wie an künstlerischer Bedeutung neben dem Goethes und dem Kleists
sein volles Recht hat. Aber wir besitzen für diese beiden kein Werk, das so bis
ins einzelnste den Intentionen des Dichters nachginge — weshalb aber doch der
Verfasser seinen Vorgängern etwas mehr Verdienst, als er tat, hätte zusprechen
dürfen! — Daß die Anmerkungen auf den zweiten Band verschoben sind, ist recht
hinderlich; wir würden aber auch ohne dies den zweiten Band mit Spannung er-
warten, mancher Gelegenheit zum Widerspruch und reichlicher Belehrung im
voraus gewiß!

Berlin. Richard M. Meyer.
 
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