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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

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Marcus, Hugo: Die Distanz in der Landschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.3817#0053

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48 HUGO MARCUS.

mindesten verrät. Nur Farben und Formen bleiben. Die Ferne macht
die Welt demnach auch ohne unser Zutun zum ästhetischen Gegen-
stand für uns, indem sie das Sichtbare der Dinge auf ihr Oberflächen-
antlitz beschränkt ohne Rücksicht auf ihren praktischen Sinn.

Die Oberfläche pflegt unbeweglich zu bleiben, selbst wenn es
darunter etwa zuckt. Das kommt der zweiten Eigenschaft zustatten,
die wir von jedem ästhetischen Gegenstand fordern müssen. Wir
fordern vom ästhetischen Gegenstand nämlich, daß er ruht, so daß
wir ihn ohne Hast betrachten können. Denn erst durch seine eigene
Ruhe verhilft der ästhetische Gegenstand auch dem Beschauer zur
inneren Ruhe der ästhetischen Kontemplation. Die Kräfte des wirk-
lichen Lebens nun sind bewegt. Und aus der Nähe nehmen wir alle
werktätige Bewegung der Wirklichkeit (die in die Tiefe der Dinge
strebt, statt auf der ästhetischen Oberfläche zu verharren) mit ver-
wirrender Deutlichkeit wahr. Entfernen wir uns hingegen, so schwindet
mit der Tiefe auch die lebendige Bewegung für unseren Blick, und
wir sehen nur noch das Feste, Bleibende, Unveränderliche der Dinge
vor uns, das auch uns beruhigt. Gehe ich beispielsweise durch die
Straße einer Stadt, so umbraust mich das Hin-und-Her ihres Verkehrs.
Und wie oft läßt dieser Strom auch das schönste Bauwerk oder Denk-
mal oder Straßenbild nicht zur Wirkung kommen. Entferne ich mich
dagegen aus der Stadt etwa auf eine Anhöhe, so erblicke ich nur noch
eine geschlossene Mauer von Häusern, Dächern, Türmen, und Hast
und Bewegung sind plötzlich aus dem Anblick geschwunden. Denn
einmal verdeckt die durch das perspektivische Aufeinanderrücken der
Tiefen entstandene Häusermauer das Treiben, das in den Tiefen der
Straßen statthat; alsdann verkleinern sich ja die Dinge auch mit der
Entfernung; und das, was sich in der Straße bewegt, Wagen, Pferde,
Menschen, ist ohnehin verhältnismäßig klein; so schwindet es für
unser Auge aus der Entfernung ganz. Schließlich aber gehören zu
dem, was sich mit der Entfernung verkleinert, doch auch die Bewe-
gungen selber: Auch die Bewegungen selbst verlangsamen sich, be-
ruhigen sich also mit der Entfernung. Beispielsweise erscheint der
steigende Rauch der Häuser aus der Ferne stehend über der Stadt,
der Fluß hält als ruhendes Band zwischen seinen Ufern, selbst ein
Eisenbahnzug verlangsamt sein Tempo. Kurz, es findet eine tief sym-
bolische Verbeständigung der ganzen Wirklichkeit statt durch unsere
Entfernung von ihr; dieselbe Verbeständigung, die das Kunstwerk
zeigt, dessen heftigste Bewegungen noch mitten in der Aktion inne-
halten, und dessen ganzes Streben auf Verewigung des Vorüber-
gehenden, Flüchtigen, Zuckenden gerichtet ist. Oder, um eine andere
Analogie zu wählen: Wie die Dinge in Erinnerung und Geschichte
 
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