HI.
Das nordische Formgefühl
in seinem Verhältnis zur Antike.
Von
Mela Escherich.
Mit Tafel I und II.
Das Formgefühl des Germanen drängte ursprünglich nicht zur
Großplastik. Die bildnerische Kunst war Begleiterscheinung der Archi-
tektur und des Kunstgewerbes. Sie äußerte sich schmuckhaft. Alle
Gestaltungsart lag im Ornament. Eine Ornamentfigur ist der Pferde-
kopf am Giebel des sächsischen Hauses, ist der Drache des Wikinger-
schiffes, Ornamentfiguren sind alle die der Fauna entnommenen und
streng stilisierend abstrahierten Formen der Fibeln, Schließen, Tür-
beschläge. In dieser Art, als durch Ornamentverschlingungen bedeut-
sam angedeutete Gestalten, dürfen wir uns auch etwa die hoch-
nordischen Götterbilder — die Fritjofsage berichtet von einem Holzbild
Baldurs — und die in Mitteldeutschland vorkommenden Irminsäulen
vorstellen. Von eigentlichen Statuen hören wir vor der Zeit Karl des
Großen nichts.
Der karolingische Staatsgedanke gipfelte in der Verschmelzung der
politischen und religiösen Einheiten. Die Reichsgrenze umschloß
nahezu die gesamte abendländische Christenheit. Germanentum und
Christentum bildeten die Grundlagen der Kultur des heiligen römischen
Reiches deutscher Nation. Danach mußte auch die Kunst ihren
Charakter empfangen: germanisch-christlich. Wir erkennen in der
Architektur auf der Linie Ravenna—Aachen (Aachener Pfalzkapelle,
mit den frühesten Vorzeichen des gotischen Stiles!) die Spuren einer
einheitlichen Entwicklung. Wir erkennen sie in der Buchmalerei, wo
der nordische Stil die orientalischen Elemente in sich aufsaugt. Die
karolingische Kunst, entsprechend dem weltpolitischen Charakter des
Staates, nimmt natürlich fremde: irische, schottische, antike, orientalische
Einflüsse an; aber das Germanische bleibt die Grundnote.
Das Germanische kennzeichnet sich durch den ornamentalen Cha-
rakter, der von seinen frühesten Anfängen an zur Gotik treibt1). Es
') Worringer, Formprobleme der Gotik. Piper, München 1911.
Das nordische Formgefühl
in seinem Verhältnis zur Antike.
Von
Mela Escherich.
Mit Tafel I und II.
Das Formgefühl des Germanen drängte ursprünglich nicht zur
Großplastik. Die bildnerische Kunst war Begleiterscheinung der Archi-
tektur und des Kunstgewerbes. Sie äußerte sich schmuckhaft. Alle
Gestaltungsart lag im Ornament. Eine Ornamentfigur ist der Pferde-
kopf am Giebel des sächsischen Hauses, ist der Drache des Wikinger-
schiffes, Ornamentfiguren sind alle die der Fauna entnommenen und
streng stilisierend abstrahierten Formen der Fibeln, Schließen, Tür-
beschläge. In dieser Art, als durch Ornamentverschlingungen bedeut-
sam angedeutete Gestalten, dürfen wir uns auch etwa die hoch-
nordischen Götterbilder — die Fritjofsage berichtet von einem Holzbild
Baldurs — und die in Mitteldeutschland vorkommenden Irminsäulen
vorstellen. Von eigentlichen Statuen hören wir vor der Zeit Karl des
Großen nichts.
Der karolingische Staatsgedanke gipfelte in der Verschmelzung der
politischen und religiösen Einheiten. Die Reichsgrenze umschloß
nahezu die gesamte abendländische Christenheit. Germanentum und
Christentum bildeten die Grundlagen der Kultur des heiligen römischen
Reiches deutscher Nation. Danach mußte auch die Kunst ihren
Charakter empfangen: germanisch-christlich. Wir erkennen in der
Architektur auf der Linie Ravenna—Aachen (Aachener Pfalzkapelle,
mit den frühesten Vorzeichen des gotischen Stiles!) die Spuren einer
einheitlichen Entwicklung. Wir erkennen sie in der Buchmalerei, wo
der nordische Stil die orientalischen Elemente in sich aufsaugt. Die
karolingische Kunst, entsprechend dem weltpolitischen Charakter des
Staates, nimmt natürlich fremde: irische, schottische, antike, orientalische
Einflüsse an; aber das Germanische bleibt die Grundnote.
Das Germanische kennzeichnet sich durch den ornamentalen Cha-
rakter, der von seinen frühesten Anfängen an zur Gotik treibt1). Es
') Worringer, Formprobleme der Gotik. Piper, München 1911.