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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

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Marcus, Hugo: Die Distanz in der Landschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.3817#0058

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DIE DISTANZ IN DER LANDSCHAFT. ■ 53

geben vom Vordergrund rechts und links wie von einem natürlichen
Rahmen, der sie verschönt, und sie selbst sind das Bild und Zentrum
in diesem Rahmen. So macht z. B. ein letzter Gipfel, daß die Vorder-
grundhöhen rechts und links zu Rahmen für ihn werden, und durch
diese natürliche Rahmung erhält er selbst den Charakter eines Zen-
trums, eines Bildes. Oder die Vordergrunderhebungen rhythmisieren
den Hintergrund ,< der in ihren Lücken immer wieder auftaucht, zum
ornamentalen Band. Auch breiten sich zwischen uns und den Dingen
der Ferne Luftschleier aus, die ihr stärkere und zugleich zartere Farben
verleihen, als die Nähe sie hat. Schließlich schwindet mit der Ver-
kleinerung der Dinge in der Distanz auch manche störende Einzelheit
aus ihrem Anblick, schwinden, wie erwähnt, überhaupt alle Details.
Die Ferne ist somit großzügiger als die Nähe.

Auf das Großzügige aber kommt auch die in der Kunsttheorie so
weit verbreitete Forderung heraus nach Lückenlosigkeit in der Füllung
der Bildtafel und Geschlossenheit im Kontur des Steinblocks. Die
Detailtilgung ist subtrahierende Großzügigkeit durch Fortnehmen der
Trennungen aus den Binnenflächen. Die Lückenlosigkeit und Ge-
schlossenheit ist addierende Großzügigkeit durch Hinzutun von Ver-
bindungen und Abrundungen vornehmlich am Kontur. Und daß auch
die addierende Großzügigkeit der lückenlosen Füllung des Raumes •
und der Geschlossenheit eines ununterbrochenen Konturs sich in der
wirklichen Landschaft findet, davon ist wieder die Distanz die Ursache.
Denn bei großen Distanzen rücken, so fanden wir ja, die hinteren
Dinge perspektivisch in die Lücken der vorderen; sie schließen diese
Lücken also, und zwar um so dichter, je mehr hintere Dinge bei
wachsender Raumtiefe in die Lücken der vorderen eintreten. Am Ende
verzahnt sich für unseren Blick die ganze Landschaft aus tausend Be-
standteilen zu einer einzigen, gewaltigen Wand oder zu einem einzigen
lr> sich bunten, aber nach dem Himmel hin geschlossenen Block. Und
der Horizont, der die Abschlußlinie bildet, geht trotz seiner vielen, im
einzelnen willkürlich geformten Partikelchen in eine fortlaufende und
°ft geradezu geometrisch regelmäßige Silhouette ein. Das nächst-
liegende Beispiel hierfür ist die gerade Abschlußlinie jeder Ebene.

Ein voll bepackter, lückenloser, fest geschlossener, fest verzahnter
Anblick, hergestellt durch in Wirklichkeit über ganz verschiedene
Tiefenschichten hin aufgelockerte, aber perspektivisch ineinander ver-
schränkte Gegenstände, das ist das Prinzip der Kulisse. Die Kulisse
'st das Gegenstück zur ästhetisch so sehr bekämpften Zerrissenheit
und Durchlöcherung eines Anblicks. Und in Kulissen baut sich jede
landschaftliche Ferne auf. Die Mystik der Kulisse, nicht mit dem
Auge, wohl aber mittels der Eigenbewegung des Schauenden durch-
 
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