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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

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Rodenwaldt, Gerhart: Zur begrifflichen und geschichtlichen Bedeutung des Klassischen in der bildenden Kunst: Eine kunstgeschichtsphilosophische Studie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3817#0136

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ZUR BEDEUTUNG DES KLASSISCHEN IN DER BILDENDEN KUNST. 131

langer Entwicklung erst mußte das Stilisierungsbedürfnis wieder bis
zur Grenze des absolut Klassischen aufsteigen, um wieder die antike
Kunst schön zu finden. In der Zwischenzeit war die absolut voll-
kommene Kunst relativ nicht schön, aber ihre absolute Vollkommen-
heit bleibt auch dann bestehen, wenn keiner sie mehr empfindet, so
wie ein mathematisches Gesetz wahr bleibt, auch wenn niemand mehr
es kennt.

Die Kunst unserer Gegenwart ist klassisch; sie gestaltet unermüd-
lich neue Materie in klassische Form, und sie kämpft den tragischen
Kampf zwischen Barock und Klassizismus. Es ist eine historische Tat-
sache, daß die Grundlage des Klassischen, der absolut vollkommenen
Kunst, von einem bestimmten Volke zu einer bestimmten Zeit ge-
schaffen worden ist, von der griechischen Antike. Darum wird die
griechische Kunst die Grundlage der unserigen bleiben, solange wir
für vollkommene Kunst empfänglich sind. Und dasselbe gilt für die
Poesie und die Wissenschaft, nicht für die Religion. Solange wir
Kultur überhaupt haben wollen, müssen wir das griechische Funda-
ment erhalten, das nur eitler Selbstbetrug wegleugnen kann. Um die
Gotik wieder lebendig zu machen, müßten wir in das Mittelalter
zurücksinken.
 
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