EPOS UND DRAMA. 133
abstrahierende, lediglich beschreibende Wissenschaft kann wohl allerlei
Züge aneinanderreihen, aber sie vermag daraus kein Kriterium des
Wesentlichen zu finden. Wieviel Zufälliges muß bei der Auswahl
von Beispielen unterlaufen, und alle Exemplare einer Gattung wirklich
zu nehmen, bleibt stets ein frommer Wunsch, da solche abschließende
Vollständigkeit nun einmal menschenunmöglich ist. Zugleich wird
dabei doch stets eine bestimmte Ansicht — eben als das Auswahl-
prinzip — stillschweigend vorausgesetzt. Soll man ein Buch wie
Freytags »Technik des Dramas« auch wegen seiner praktischen Brauch-
barkeit nicht gering schätzen, so taucht doch überall die Frage auf:
warum? Hinzuweisen vermag allerdings eine Beschreibung der Haut
auf die Lebensgesetze eines Lebewesens, aber nimmer sie klar heraus-
zufinden. Wir brauchen die Strukturformel, die uns die Seele eines
Kunstwerkes enthüllt, nicht Phantasien über »die Kunst«, noch über
"das Kunstwerk«. Dies wäre die Aufgabe der Kunstwissenschaft,
die ihr das Leben stellt.
Manche behaupteten einst, über Kunst dürfe nur der Künstler ur-
teilen; Laienmund solle da schweigen. Aber wir wollen ja gar nicht
alles besser wissen als der Schöpfer, wir wollen nur besser verstehen,
damit wir intensiver nachfühlen können, erst den vollen Sinn aus-
schöpfen, die ewigen Harmonien recht in uns aufnehmen können,
•st es aber überhaupt möglich, uns über ein Kunstwerk zu verstän-
digen, oder sind wir ganz der Laune des Geschmacks preisgegeben?
Über Kunstwerke geurteilt wird ja nun von jedem, das ist ein Faktum.
Dieser Tatbestand des Lebens drängt uns zu der Frage, wie sind
allgemein notwendige und gültige, wahrhaft wissenschaffende Urteile
über Kunstwerke möglich. Rickertl) wird also doch wohl Recht
haben, wenn er behauptet, daß die Ästhetik »der erkenntnistheore-
tischen Orientierung nicht entbehren kann«. Ja, das ist gerade die
Hauptaufgabe einer Ästhetik. Sie soll die Geltung von Urteilen über
Kunstwerke begründen und damit die Kunstwissenschaft erkenntnis-
theoretisch fundieren, rechtfertigen. Ersetzen kann sie jene allerdings
nicht, denn sie handelt eben nicht von der Kunst, noch von Kunst-
werken. Will sie die Geltung der Urteile über Kunstwerke — Urteil
bedeutet natürlich nicht aburteilen — feststellen, so muß sie sie
auf ein Prinzip zurückführen, das seine Begründung in sich selbst
ti"ägt, von dem aus alle Einzelaussagen sich zu einer Einheit zu-
sammenschließen. Erkenntnis heißt Aufzeigen von Gesetzlichkeit. Die
Urteile müssen zusammenstimmen, dürfen sich nicht wie die Äuße-
') Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, Tübingen 1915, 3. Aufl.,
S. 449
abstrahierende, lediglich beschreibende Wissenschaft kann wohl allerlei
Züge aneinanderreihen, aber sie vermag daraus kein Kriterium des
Wesentlichen zu finden. Wieviel Zufälliges muß bei der Auswahl
von Beispielen unterlaufen, und alle Exemplare einer Gattung wirklich
zu nehmen, bleibt stets ein frommer Wunsch, da solche abschließende
Vollständigkeit nun einmal menschenunmöglich ist. Zugleich wird
dabei doch stets eine bestimmte Ansicht — eben als das Auswahl-
prinzip — stillschweigend vorausgesetzt. Soll man ein Buch wie
Freytags »Technik des Dramas« auch wegen seiner praktischen Brauch-
barkeit nicht gering schätzen, so taucht doch überall die Frage auf:
warum? Hinzuweisen vermag allerdings eine Beschreibung der Haut
auf die Lebensgesetze eines Lebewesens, aber nimmer sie klar heraus-
zufinden. Wir brauchen die Strukturformel, die uns die Seele eines
Kunstwerkes enthüllt, nicht Phantasien über »die Kunst«, noch über
"das Kunstwerk«. Dies wäre die Aufgabe der Kunstwissenschaft,
die ihr das Leben stellt.
Manche behaupteten einst, über Kunst dürfe nur der Künstler ur-
teilen; Laienmund solle da schweigen. Aber wir wollen ja gar nicht
alles besser wissen als der Schöpfer, wir wollen nur besser verstehen,
damit wir intensiver nachfühlen können, erst den vollen Sinn aus-
schöpfen, die ewigen Harmonien recht in uns aufnehmen können,
•st es aber überhaupt möglich, uns über ein Kunstwerk zu verstän-
digen, oder sind wir ganz der Laune des Geschmacks preisgegeben?
Über Kunstwerke geurteilt wird ja nun von jedem, das ist ein Faktum.
Dieser Tatbestand des Lebens drängt uns zu der Frage, wie sind
allgemein notwendige und gültige, wahrhaft wissenschaffende Urteile
über Kunstwerke möglich. Rickertl) wird also doch wohl Recht
haben, wenn er behauptet, daß die Ästhetik »der erkenntnistheore-
tischen Orientierung nicht entbehren kann«. Ja, das ist gerade die
Hauptaufgabe einer Ästhetik. Sie soll die Geltung von Urteilen über
Kunstwerke begründen und damit die Kunstwissenschaft erkenntnis-
theoretisch fundieren, rechtfertigen. Ersetzen kann sie jene allerdings
nicht, denn sie handelt eben nicht von der Kunst, noch von Kunst-
werken. Will sie die Geltung der Urteile über Kunstwerke — Urteil
bedeutet natürlich nicht aburteilen — feststellen, so muß sie sie
auf ein Prinzip zurückführen, das seine Begründung in sich selbst
ti"ägt, von dem aus alle Einzelaussagen sich zu einer Einheit zu-
sammenschließen. Erkenntnis heißt Aufzeigen von Gesetzlichkeit. Die
Urteile müssen zusammenstimmen, dürfen sich nicht wie die Äuße-
') Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, Tübingen 1915, 3. Aufl.,
S. 449