324 KARL A. J. MEYER.
Der problematisch schwankende, hamletisch verzweifelnde, ironisch
spottende Tonio kehrt wieder als gefestigter, ernster Künstler mit ein-
deutig bestimmten, sicheren Überzeugungen und klarem, unbeirrbarem
Wollen. Sein Künstlertum hat für ihn nichts Problematisches mehr,
es steht ihm jenseits jeglicher Diskussion. Sein ganzes Schaffen und
Sein, was dasselbe ist, ^erscheint bestimmt durch die Leistung, den
Dienst am Wort, die Herrschaft der Form. Sein Leben ist ein um-
schweifloser Aufstieg zur Form: sein Schicksal aber das Chaos.
In Aschenbach vollendet sich die Entwicklung des Künstlers durch
Aufhebung des inneren Zwiespalts in einer höheren Synthese. Er
hat Erkenntnis, Ironie, Skepsis und Unglauben abgetan, d. h. er hat
jenen für Bajazzo und Tonio in seinen menschlichen Wirkungen
so verhängnisvollen Trieb zur Selbstobjektivierung als aufbauendes
Element seiner Persönlichkeit verschmolzen und den Einklang seines
Künstler- und Menschentums errungen. Das »Wunder wiederge-
borener Unbefangenheit«, von dem der Mönch spricht, hat auch
seine geistige Existenz auf eine neue, höhere Basis gestellt. »Und
gewiß ist, daß die schwermütig gewissenhafte Gründlichkeit des
Jünglings Seichtheit bedeutet im Vergleich mit dem tiefen Entschlüsse
des Meister gewordenen Mannes, das Wissen zu leugnen, es abzu-
lehnen, erhobenen Hauptes darüber hinwegzugehen, sofern es den
Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die Leidenschaft im ge-
ringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist.«
Aus schwankender Unentschiedehheit, das heißt Formlosigkeit ist er
aufgestiegen zur Entschlossenheit, zur Form, zur einheitlichen Aus-
prägung der ganzen Existenz in bejahendem, positivem Geiste. Diese
Tendenz führt zu unmerklicher Änderung der stark betonten nega-
tiven Vorzeichen der früheren Entwicklungsstadien. So biegt sie
z. B. das Blutkreuzungsmotiv in ausschließlich positive Richtung. Ist
es bei Tonio die Ursache seiner Halbheit und Unentschiedenheit,
wie sie in der Formel vom »verirrten Bürger« zum Ausdruck gelangt,
so fungiert es jetzt als Voraussetzung eigentümlicher Kräfte und
Fähigkeiten, ja Größe. Aus demselben Grunde muß z. B. aus der
hanseatischen Kaufmannsfamilie, der Tonio entstammt, eine preußische
Beamtenfamilie werden! Denn »die Vermählung dienstlich nüch-
terner Gewissenhaftigkeit mit den klaren, feurigeren Impulsen ließ
einen Künstler und diesen besonderen Künstler erstehen«. Derselben
Tendenz entspricht, wenn der Dichter jetzt die Abenteuer des Fleisches
aus dem Leben des Künstlers streicht, die Schwäche nicht als Schuld,
sondern als Erbteil motivierend, und es von früh auf unter die Herr-
schaft bewußter Selbstzucht stellt, die sich verantwortlich und ver-
pflichtet weiß, das knapp bemessene Pfund an Lebenskraft klug zu
Der problematisch schwankende, hamletisch verzweifelnde, ironisch
spottende Tonio kehrt wieder als gefestigter, ernster Künstler mit ein-
deutig bestimmten, sicheren Überzeugungen und klarem, unbeirrbarem
Wollen. Sein Künstlertum hat für ihn nichts Problematisches mehr,
es steht ihm jenseits jeglicher Diskussion. Sein ganzes Schaffen und
Sein, was dasselbe ist, ^erscheint bestimmt durch die Leistung, den
Dienst am Wort, die Herrschaft der Form. Sein Leben ist ein um-
schweifloser Aufstieg zur Form: sein Schicksal aber das Chaos.
In Aschenbach vollendet sich die Entwicklung des Künstlers durch
Aufhebung des inneren Zwiespalts in einer höheren Synthese. Er
hat Erkenntnis, Ironie, Skepsis und Unglauben abgetan, d. h. er hat
jenen für Bajazzo und Tonio in seinen menschlichen Wirkungen
so verhängnisvollen Trieb zur Selbstobjektivierung als aufbauendes
Element seiner Persönlichkeit verschmolzen und den Einklang seines
Künstler- und Menschentums errungen. Das »Wunder wiederge-
borener Unbefangenheit«, von dem der Mönch spricht, hat auch
seine geistige Existenz auf eine neue, höhere Basis gestellt. »Und
gewiß ist, daß die schwermütig gewissenhafte Gründlichkeit des
Jünglings Seichtheit bedeutet im Vergleich mit dem tiefen Entschlüsse
des Meister gewordenen Mannes, das Wissen zu leugnen, es abzu-
lehnen, erhobenen Hauptes darüber hinwegzugehen, sofern es den
Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die Leidenschaft im ge-
ringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist.«
Aus schwankender Unentschiedehheit, das heißt Formlosigkeit ist er
aufgestiegen zur Entschlossenheit, zur Form, zur einheitlichen Aus-
prägung der ganzen Existenz in bejahendem, positivem Geiste. Diese
Tendenz führt zu unmerklicher Änderung der stark betonten nega-
tiven Vorzeichen der früheren Entwicklungsstadien. So biegt sie
z. B. das Blutkreuzungsmotiv in ausschließlich positive Richtung. Ist
es bei Tonio die Ursache seiner Halbheit und Unentschiedenheit,
wie sie in der Formel vom »verirrten Bürger« zum Ausdruck gelangt,
so fungiert es jetzt als Voraussetzung eigentümlicher Kräfte und
Fähigkeiten, ja Größe. Aus demselben Grunde muß z. B. aus der
hanseatischen Kaufmannsfamilie, der Tonio entstammt, eine preußische
Beamtenfamilie werden! Denn »die Vermählung dienstlich nüch-
terner Gewissenhaftigkeit mit den klaren, feurigeren Impulsen ließ
einen Künstler und diesen besonderen Künstler erstehen«. Derselben
Tendenz entspricht, wenn der Dichter jetzt die Abenteuer des Fleisches
aus dem Leben des Künstlers streicht, die Schwäche nicht als Schuld,
sondern als Erbteil motivierend, und es von früh auf unter die Herr-
schaft bewußter Selbstzucht stellt, die sich verantwortlich und ver-
pflichtet weiß, das knapp bemessene Pfund an Lebenskraft klug zu