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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

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Lukacs, Georg: Die Theorie des Romans, [2]: Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3817#0419

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414 GEORG VON LUKACS.

jeder Form ist also die Erfüllung ihrer eigenen Strukturgesetze; die
Lebensbejahung, die als Stimmung von ihr auszugehen scheint, ist
nichts anderes als die Auflösung ihrer formgeforderten Dissonanzen,
die Bejahung ihrer eigenen, formgeschaffenen Substanz. Die objektive
Struktur der Romanwelt zeigt eine heterogene, nur von regulativen
Ideen geregelte Totalität, deren Sinn nur aufgegeben aber nicht ge-
geben ist. Darum ist die in der Erinnerung aufdämmernde aber er-
lebte Einheit von Persönlichkeit und Welt, in ihrer subjektiv-konsti-
tutiven, objektiv-reflexiven Wesensart das tiefste und echteste Mittel,
die von der Romanform geforderte Totalität zu leisten. Es ist die
Heimkehr des Subjekts in sich selbst, die in diesem Erlebnis offenbar
wird, so wie die Ahnung und die Forderung dieser Heimkehr den
Hoffnungserlebnissen zugrunde liegt. Diese Heimkehr ist es, die alles
Angefangene, Abgebrochene und Fallengelassene nachträglich zu Taten
rundet; in der Stimmung ihres Erlebens wird der lyrische Charakter
der Stimmung überwunden, weil auf die Außenwelt, auf die Lebens-
totalität bezogen; und die Einsicht, die diese Einheit erfaßt, erhebt sich,
wegen dieser Objektsbeziehung, aus ihrer zersetzenden Analytik: sie
wird das ahnend-intuitive Erfassen des unerreichten und darum un-
aussprechbaren Lebenssinnes, der deutlich gewordene Kern aller
Taten.

Es ist eine natürliche Folge der Paradoxie dieser Kunstart, daß die
ganz großen Romane eine gewisse Tendenz zum Transzendieren
auf die Epopöe hin haben. Die »Education sentimentale« ist hier die
einzige, wirkliche Ausnahme und ist darum für die Form des Romans
am meisten vorbildlich. In der Gestaltung des Zeitablaufs und seiner
Beziehung zum künstlerischen Zentrum des ganzen Werkes zeigt sich
diese Tendenz am deutlichsten. Pontoppidans »Hans im Glück«, der
vielleicht von allen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts dem großen
Gelingen Flauberts am nächsten steht, bestimmt das Ziel, dessen Er-
reichen seine Lebenstotalität begründet und abrundet, zu inhaltlich
konkretisiert und zu wertbetont, als daß vom Ende aus diese vollendete,
wirklich epische Einheit entstehen könnte. Zwar ist auch für ihn der
Weg mehr als eine unumgängliche Erschwerung des Ideals; er ist der
notwendige Umweg, ohne dessen Durchschreiten das Ziel leer und
abstrakt bliebe und das Erreichen darum seinen Wert verlöre. Aber
er hat seinen Wert doch nur in Bezug auf dieses bestimmte Ziel, und
der Wert, der so entsteht, ist doch nur der des Gewachsenseins und
nicht der des Wachstums selbst. Sein Zeiterleben hat also eine leise
Neigung zum Transzendieren auf das Dramatische, auf das rich-
tende Scheiden vom Wertgetragenen und Sinnverlassenen, das zwar
mit bewundernswertem Takt überwunden wird, dessen Spuren, je-
 
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